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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.
ler zuwider. Wenn nämlich Paulus behauptet, der Orien-
tale denke nicht im Ernst, das Ältere sei in der Absicht
gesagt, oder von Gott desswegen zur Wirklichkeit gebracht,
damit das Neuere dadurch präfigurirt würde, und umge-
kehrt 8): so ist diess ein Hinübertragen unsrer occidentali-
schen Nüchternheit in das Phantasieleben des Orientalen;
wenn er aber hinzusetzt, vielmehr habe das Zusammen-
treffen eines Späteren mit einem Früheren im Gemüthe des
Morgenländers nur die Gestalt einer Beabsichtigung an-
genommen: so ist hiedurch der erste Satz wieder aufge-
hoben, denn es kann damit nichts Anderes gesagt sein, als:
das, was nach unsrer Einsicht blosses Zusammentreffen ist,
erschien dem Orientalen als Beabsichtigtes, und diesen Sinn
müssen wir in einer orientalischen Darstellung finden, wenn
wir sie nach ihrem ursprünglichen Verstande auslegen wol-
len. Namentlich von den späteren Juden ist es bekannt,
dass sie allenthalben im A. T. Weissagungen für Gegen-
wart und Zukunft fanden, dass sie namentlich vom künf-
tigen Messias aus zum Theil falsch gedeuteten A. T.lichen
Stellen sich ein genaues Bild zusammengesetzt hatten 9),
und mit solchen, wenn auch noch so verkehrten Schriftan-
wendungen meinte es der Jude wirklich so, dass er eine
eigentliche Erfüllung des Schriftwortes da zu finden glaub-
te, wo er es anwendete, wesswegen es, mit Olshausen zu
reden 10), blosse dogmatische Befangenheit ist, den N. T.li-
chen Schriftstellern einen ganz andern, als den unter ih-
ren Landsleuten gewöhnlichen Sinn jener Formel unterzu-
schieben, nur damit ihnen keine falsche Schriftauslegung
zur Last fallen solle.

Unbefangen genug in Rücksicht auf das A. T., um ge-

8) a. d. a. St.
9) Vgl. von Schöttgen's Horae den zweiten Theil, de Messia.
Fritzsche a. a. O. S. 49.
10) Bibl. Comm. S. 58.

Erster Abschnitt.
ler zuwider. Wenn nämlich Paulus behauptet, der Orien-
tale denke nicht im Ernst, das Ältere sei in der Absicht
gesagt, oder von Gott deſswegen zur Wirklichkeit gebracht,
damit das Neuere dadurch präfigurirt würde, und umge-
kehrt 8): so ist dieſs ein Hinübertragen unsrer occidentali-
schen Nüchternheit in das Phantasieleben des Orientalen;
wenn er aber hinzusetzt, vielmehr habe das Zusammen-
treffen eines Späteren mit einem Früheren im Gemüthe des
Morgenländers nur die Gestalt einer Beabsichtigung an-
genommen: so ist hiedurch der erste Satz wieder aufge-
hoben, denn es kann damit nichts Anderes gesagt sein, als:
das, was nach unsrer Einsicht bloſses Zusammentreffen ist,
erschien dem Orientalen als Beabsichtigtes, und diesen Sinn
müssen wir in einer orientalischen Darstellung finden, wenn
wir sie nach ihrem ursprünglichen Verstande auslegen wol-
len. Namentlich von den späteren Juden ist es bekannt,
daſs sie allenthalben im A. T. Weissagungen für Gegen-
wart und Zukunft fanden, daſs sie namentlich vom künf-
tigen Messias aus zum Theil falsch gedeuteten A. T.lichen
Stellen sich ein genaues Bild zusammengesetzt hatten 9),
und mit solchen, wenn auch noch so verkehrten Schriftan-
wendungen meinte es der Jude wirklich so, daſs er eine
eigentliche Erfüllung des Schriftwortes da zu finden glaub-
te, wo er es anwendete, weſswegen es, mit Olshausen zu
reden 10), bloſse dogmatische Befangenheit ist, den N. T.li-
chen Schriftstellern einen ganz andern, als den unter ih-
ren Landsleuten gewöhnlichen Sinn jener Formel unterzu-
schieben, nur damit ihnen keine falsche Schriftauslegung
zur Last fallen solle.

Unbefangen genug in Rücksicht auf das A. T., um ge-

8) a. d. a. St.
9) Vgl. von Schöttgen's Horae den zweiten Theil, de Messia.
Fritzsche a. a. O. S. 49.
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[148/0172] Erster Abschnitt. ler zuwider. Wenn nämlich Paulus behauptet, der Orien- tale denke nicht im Ernst, das Ältere sei in der Absicht gesagt, oder von Gott deſswegen zur Wirklichkeit gebracht, damit das Neuere dadurch präfigurirt würde, und umge- kehrt 8): so ist dieſs ein Hinübertragen unsrer occidentali- schen Nüchternheit in das Phantasieleben des Orientalen; wenn er aber hinzusetzt, vielmehr habe das Zusammen- treffen eines Späteren mit einem Früheren im Gemüthe des Morgenländers nur die Gestalt einer Beabsichtigung an- genommen: so ist hiedurch der erste Satz wieder aufge- hoben, denn es kann damit nichts Anderes gesagt sein, als: das, was nach unsrer Einsicht bloſses Zusammentreffen ist, erschien dem Orientalen als Beabsichtigtes, und diesen Sinn müssen wir in einer orientalischen Darstellung finden, wenn wir sie nach ihrem ursprünglichen Verstande auslegen wol- len. Namentlich von den späteren Juden ist es bekannt, daſs sie allenthalben im A. T. Weissagungen für Gegen- wart und Zukunft fanden, daſs sie namentlich vom künf- tigen Messias aus zum Theil falsch gedeuteten A. T.lichen Stellen sich ein genaues Bild zusammengesetzt hatten 9), und mit solchen, wenn auch noch so verkehrten Schriftan- wendungen meinte es der Jude wirklich so, daſs er eine eigentliche Erfüllung des Schriftwortes da zu finden glaub- te, wo er es anwendete, weſswegen es, mit Olshausen zu reden 10), bloſse dogmatische Befangenheit ist, den N. T.li- chen Schriftstellern einen ganz andern, als den unter ih- ren Landsleuten gewöhnlichen Sinn jener Formel unterzu- schieben, nur damit ihnen keine falsche Schriftauslegung zur Last fallen solle. Unbefangen genug in Rücksicht auf das A. T., um ge- 8) a. d. a. St. 9) Vgl. von Schöttgen's Horae den zweiten Theil, de Messia. Fritzsche a. a. O. S. 49. 10) Bibl. Comm. S. 58.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/172>, abgerufen am 21.11.2024.