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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Drittes Kapitel. §. 24.
sie zu umarmen, worein die Frau unschuldsvoll und glau-
big sich ergab, und später vielleicht auch ein Götterkind
zu gebären geglaubt haben würde, wenn nicht der Buhle
bald darauf mit bitterm Hohn ihr den wahren Stand der
Sache entdeckt hätte. Auf ähnliche Weise glaubt nun der
Verfasser, sei Maria als Verlobte des ältlichen Joseph
durch einen verliebten und schwärmerischen Jüngling (er
lässt ihn in der folgenden Geschichte als Joseph von Ari-
mathäa auftreten!) getäuscht worden, und habe sofort, in
aller Unschuld, wieder Andere getäuscht 10). Nachdem
Paulus diese Venturini'sche Vergleichung ebenfalls ange-
führt, und ihr mit sichtbarer Liebe nachgeholfen 11), muss
man sich wundern, wie er hinzusetzen kann, wer einen
höheren Standpunkt erreicht habe, der werde alle derglei-
chen Muthmassungen mit dem Wunsch anhören, dass doch
nie an den Körper Jesu mehr als an seinen Geist gedacht
werden möchte. Wo ist denn dem Verfasser der natürli-
chen Geschichte gegenüber der höhere Standpunkt, den
Paulus in seiner Darstellung erreicht hätte? Besteht er in
etwas Andrem, als in dem Verschweigen der Folgesätze,
welche, wenn einmal die Prämissen so wie bei Paulus ge-
geben sind, doch jeder im Stillen unwillkührlich ziehen
muss? Besser in jedem Falle, sie werden ausgesprochen,
dann täuscht die Ansicht weniger und richtet eher sich sel-
ber. Denn von der Darstellung des Verfassers der natür-
lichen Geschichte aus fällt es nun von selbst in die Augen,
dass diese Erklärungsart nicht verschieden ist von jener
uralten jüdischen Blasphemie, welche wir bei Origenes und
im Talmud finden, dass Jesus seine Geburt von einer rei-
nen Jungfrau fälschlich vorgegeben, in der That aber von
Maria im Ehebruch mit einem gewissen Pantheras erzeugt
worden sei 12).

10) 1ter Theil, S. 140 ff.
11) a. a. O. S. 117 f.
12) Die Sage hat verschiedene Formationen erlebt, durch welche

Drittes Kapitel. §. 24.
sie zu umarmen, worein die Frau unschuldsvoll und glau-
big sich ergab, und später vielleicht auch ein Götterkind
zu gebären geglaubt haben würde, wenn nicht der Buhle
bald darauf mit bitterm Hohn ihr den wahren Stand der
Sache entdeckt hätte. Auf ähnliche Weise glaubt nun der
Verfasser, sei Maria als Verlobte des ältlichen Joseph
durch einen verliebten und schwärmerischen Jüngling (er
läſst ihn in der folgenden Geschichte als Joseph von Ari-
mathäa auftreten!) getäuscht worden, und habe sofort, in
aller Unschuld, wieder Andere getäuscht 10). Nachdem
Paulus diese Venturini'sche Vergleichung ebenfalls ange-
führt, und ihr mit sichtbarer Liebe nachgeholfen 11), muſs
man sich wundern, wie er hinzusetzen kann, wer einen
höheren Standpunkt erreicht habe, der werde alle derglei-
chen Muthmaſsungen mit dem Wunsch anhören, daſs doch
nie an den Körper Jesu mehr als an seinen Geist gedacht
werden möchte. Wo ist denn dem Verfasser der natürli-
chen Geschichte gegenüber der höhere Standpunkt, den
Paulus in seiner Darstellung erreicht hätte? Besteht er in
etwas Andrem, als in dem Verschweigen der Folgesätze,
welche, wenn einmal die Prämissen so wie bei Paulus ge-
geben sind, doch jeder im Stillen unwillkührlich ziehen
muſs? Besser in jedem Falle, sie werden ausgesprochen,
dann täuscht die Ansicht weniger und richtet eher sich sel-
ber. Denn von der Darstellung des Verfassers der natür-
lichen Geschichte aus fällt es nun von selbst in die Augen,
daſs diese Erklärungsart nicht verschieden ist von jener
uralten jüdischen Blasphemie, welche wir bei Origenes und
im Talmud finden, daſs Jesus seine Geburt von einer rei-
nen Jungfrau fälschlich vorgegeben, in der That aber von
Maria im Ehebruch mit einem gewissen Pantheras erzeugt
worden sei 12).

10) 1ter Theil, S. 140 ff.
11) a. a. O. S. 117 f.
12) Die Sage hat verschiedene Formationen erlebt, durch welche
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[171/0195] Drittes Kapitel. §. 24. sie zu umarmen, worein die Frau unschuldsvoll und glau- big sich ergab, und später vielleicht auch ein Götterkind zu gebären geglaubt haben würde, wenn nicht der Buhle bald darauf mit bitterm Hohn ihr den wahren Stand der Sache entdeckt hätte. Auf ähnliche Weise glaubt nun der Verfasser, sei Maria als Verlobte des ältlichen Joseph durch einen verliebten und schwärmerischen Jüngling (er läſst ihn in der folgenden Geschichte als Joseph von Ari- mathäa auftreten!) getäuscht worden, und habe sofort, in aller Unschuld, wieder Andere getäuscht 10). Nachdem Paulus diese Venturini'sche Vergleichung ebenfalls ange- führt, und ihr mit sichtbarer Liebe nachgeholfen 11), muſs man sich wundern, wie er hinzusetzen kann, wer einen höheren Standpunkt erreicht habe, der werde alle derglei- chen Muthmaſsungen mit dem Wunsch anhören, daſs doch nie an den Körper Jesu mehr als an seinen Geist gedacht werden möchte. Wo ist denn dem Verfasser der natürli- chen Geschichte gegenüber der höhere Standpunkt, den Paulus in seiner Darstellung erreicht hätte? Besteht er in etwas Andrem, als in dem Verschweigen der Folgesätze, welche, wenn einmal die Prämissen so wie bei Paulus ge- geben sind, doch jeder im Stillen unwillkührlich ziehen muſs? Besser in jedem Falle, sie werden ausgesprochen, dann täuscht die Ansicht weniger und richtet eher sich sel- ber. Denn von der Darstellung des Verfassers der natür- lichen Geschichte aus fällt es nun von selbst in die Augen, daſs diese Erklärungsart nicht verschieden ist von jener uralten jüdischen Blasphemie, welche wir bei Origenes und im Talmud finden, daſs Jesus seine Geburt von einer rei- nen Jungfrau fälschlich vorgegeben, in der That aber von Maria im Ehebruch mit einem gewissen Pantheras erzeugt worden sei 12). 10) 1ter Theil, S. 140 ff. 11) a. a. O. S. 117 f. 12) Die Sage hat verschiedene Formationen erlebt, durch welche

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/195>, abgerufen am 21.11.2024.