Ein Hauptbestand[t]heil aller Religionsurkunden ist hei- lige Geschichte, ein Geschehen, in welchem das Göttliche unvermittelt in das Menschliche hereintritt, die Ideen un- mittelbar sich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung über- haupt Vermittlung ist: so wird die fortschreitende Bildung der Völker auch der Vermittlungen immer deutlicher sich bewusst, welche die Idee zu ihrer Verwirklichung bedarf, und so erscheint jene Differenz der neuen Bildung und der alten Religionsurkunden in Bezug auf deren geschichtarti- gen Theil namentlich so, dass jenes unmittelbare Eingrei- fen des Göttlichen in das Menschliche seine Wahrschein- lichkeit verliert. Wozu, da das Menschliche jener Urkun- den ein Menschliches der Vorzeit, also ein relativ unent- wickeltes, nach Umständen selbst rohes ist, auch ein un- behagliches Sichabwenden von diesem insbesondere sich ge- sellen kann. Das Göttliche kann nicht so (theils überhaupt unmittelbar, theils noch dazu roh) geschehen sein, oder das so Geschehene kann nicht Gött- liches gewesen sein -- so wird die Differenz sich aussprechen, und wenn die Auslegung dieselbe zu vermit- teln sucht, so wird sie dahin streben, entweder das Gött- liche als nicht so Geschehenes darzustellen, also den alten Urkunden die historische Geltung abzusprechen, oder das Geschehene als so nicht Göttliches aufzuweisen, also aus jenen Büchern den absoluten Inhalt hinwegzuerklären. In beiden Fällen kann die Auslegung befangen oder unbefangen zu Werke gehen: befangen, wenn sie gegen das Bewusst- sein der Differenz zwischen der neuen Bildung und der al- ten Urkunde sich verblendet, und nur den ursprünglichen Sinn der letzteren zu ermitteln sich einbildet; unbefangen, wenn sie klar erkennt und offen eingesteht, dass sie das, was jene alten Schriftsteller erzählen, anders ansieht, als diese selbst es angesehen haben. Dieser letztere Stand- punkt ist jedoch keineswegs schon ein Sichlossagen von den alten Religionsschriften, sondern es kann auch hier noch
Einleitung. §. 1.
Ein Hauptbestand[t]heil aller Religionsurkunden ist hei- lige Geschichte, ein Geschehen, in welchem das Göttliche unvermittelt in das Menschliche hereintritt, die Ideen un- mittelbar sich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung über- haupt Vermittlung ist: so wird die fortschreitende Bildung der Völker auch der Vermittlungen immer deutlicher sich bewuſst, welche die Idee zu ihrer Verwirklichung bedarf, und so erscheint jene Differenz der neuen Bildung und der alten Religionsurkunden in Bezug auf deren geschichtarti- gen Theil namentlich so, daſs jenes unmittelbare Eingrei- fen des Göttlichen in das Menschliche seine Wahrschein- lichkeit verliert. Wozu, da das Menschliche jener Urkun- den ein Menschliches der Vorzeit, also ein relativ unent- wickeltes, nach Umständen selbst rohes ist, auch ein un- behagliches Sichabwenden von diesem insbesondere sich ge- sellen kann. Das Göttliche kann nicht so (theils überhaupt unmittelbar, theils noch dazu roh) geschehen sein, oder das so Geschehene kann nicht Gött- liches gewesen sein — so wird die Differenz sich aussprechen, und wenn die Auslegung dieselbe zu vermit- teln sucht, so wird sie dahin streben, entweder das Gött- liche als nicht so Geschehenes darzustellen, also den alten Urkunden die historische Geltung abzusprechen, oder das Geschehene als so nicht Göttliches aufzuweisen, also aus jenen Büchern den absoluten Inhalt hinwegzuerklären. In beiden Fällen kann die Auslegung befangen oder unbefangen zu Werke gehen: befangen, wenn sie gegen das Bewuſst- sein der Differenz zwischen der neuen Bildung und der al- ten Urkunde sich verblendet, und nur den ursprünglichen Sinn der letzteren zu ermitteln sich einbildet; unbefangen, wenn sie klar erkennt und offen eingesteht, daſs sie das, was jene alten Schriftsteller erzählen, anders ansieht, als diese selbst es angesehen haben. Dieser letztere Stand- punkt ist jedoch keineswegs schon ein Sichlossagen von den alten Religionsschriften, sondern es kann auch hier noch
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Einleitung. §. 1.
Ein Hauptbestandtheil aller Religionsurkunden ist hei-
lige Geschichte, ein Geschehen, in welchem das Göttliche
unvermittelt in das Menschliche hereintritt, die Ideen un-
mittelbar sich verkörpert zeigen. Wie aber Bildung über-
haupt Vermittlung ist: so wird die fortschreitende Bildung
der Völker auch der Vermittlungen immer deutlicher sich
bewuſst, welche die Idee zu ihrer Verwirklichung bedarf,
und so erscheint jene Differenz der neuen Bildung und der
alten Religionsurkunden in Bezug auf deren geschichtarti-
gen Theil namentlich so, daſs jenes unmittelbare Eingrei-
fen des Göttlichen in das Menschliche seine Wahrschein-
lichkeit verliert. Wozu, da das Menschliche jener Urkun-
den ein Menschliches der Vorzeit, also ein relativ unent-
wickeltes, nach Umständen selbst rohes ist, auch ein un-
behagliches Sichabwenden von diesem insbesondere sich ge-
sellen kann. Das Göttliche kann nicht so (theils
überhaupt unmittelbar, theils noch dazu roh) geschehen
sein, oder das so Geschehene kann nicht Gött-
liches gewesen sein — so wird die Differenz sich
aussprechen, und wenn die Auslegung dieselbe zu vermit-
teln sucht, so wird sie dahin streben, entweder das Gött-
liche als nicht so Geschehenes darzustellen, also den alten
Urkunden die historische Geltung abzusprechen, oder das
Geschehene als so nicht Göttliches aufzuweisen, also aus
jenen Büchern den absoluten Inhalt hinwegzuerklären. In
beiden Fällen kann die Auslegung befangen oder unbefangen
zu Werke gehen: befangen, wenn sie gegen das Bewuſst-
sein der Differenz zwischen der neuen Bildung und der al-
ten Urkunde sich verblendet, und nur den ursprünglichen
Sinn der letzteren zu ermitteln sich einbildet; unbefangen,
wenn sie klar erkennt und offen eingesteht, daſs sie das,
was jene alten Schriftsteller erzählen, anders ansieht, als
diese selbst es angesehen haben. Dieser letztere Stand-
punkt ist jedoch keineswegs schon ein Sichlossagen von den
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/26>, abgerufen am 21.11.2024.
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