wahrscheinlich im Traum, die Gewissheit, ihn vor seinem Ende noch sehen zu dürfen. Als er daher eines Tags dem Drange nicht widerstehen kann, den Tempel zu besuchen, und nun eben an diesem Tage Maria ihr Kind dahin brach- te, dessen Schönheit ihn schon anzog: so wurde, als sie ihm vollends die Davidische Abkunft des Kindes eröffnete, die Aufmerksamkeit und Theilnahme des Mannes in einem Grade rege, welcher die Maria bewog, ihm die Hoffnungen, wel- che auf diesem Sprössling des al[te]n Königshauses ruhten, und die ausserordentlichen Ereign[is]se, welche dieselben ver- anlasst hatten, zu entdecken. Diese Hoffnungen ergreift Si- meon mit Zuversicht, und spricht nun seine messianischen Erwartungen und Befürchtungen, in der Überzeugung, dass sie an diesem Kinde in Erfüllung gehen werden, in begei- sterter Rede aus. Noch weniger braucht man für die Han- na die Annahme des Verfs. der natürlichen Geschichte, dass sie, als eine jener bei der Entbindung Marias anwe- senden Frauen, mit den auf dem Kinde ruhenden Hoffnun- gen schon vorher bekannt gewesen: sie hatte ja Simeons Reden gehört, und gleichgestimmt, wie sie war, gab sie denselben ihren Beifall.
So einfach diese natürliche Erklärung scheint: so ist sie doch auch hier nicht minder gewaltsam, als wir sie sonst gefunden haben. Denn dass dem Simeon, ehe er in seine begeisterte Rede sich ergoss, die Eltern Jesu etwas von ihren ausserordentlichen Erwartungen mitgetheilt hät- ten, sagt unser Referent nicht nur nirgends, sondern die Pointe seiner ganzen Erzählung besteht gerade darin, dass der fromme Greis in Kraft des ihn erfüllenden Geistes Je- sum sogleich als das messianische Kind erkannt habe, und ebendesswegen wird auch sein Verhältniss zum pneuma agion so hervorgehoben, um erklärbar zu machen, wie er auch ohne vorangegangene Mittheilung doch Jesum als den ihm Verheissenen zu erkennen und zugleich den Gang seines messianischen Schicksals vorherzusagen vermochte. Wie
Viertes Kapitel. §. 34.
wahrscheinlich im Traum, die Gewiſsheit, ihn vor seinem Ende noch sehen zu dürfen. Als er daher eines Tags dem Drange nicht widerstehen kann, den Tempel zu besuchen, und nun eben an diesem Tage Maria ihr Kind dahin brach- te, dessen Schönheit ihn schon anzog: so wurde, als sie ihm vollends die Davidische Abkunft des Kindes eröffnete, die Aufmerksamkeit und Theilnahme des Mannes in einem Grade rege, welcher die Maria bewog, ihm die Hoffnungen, wel- che auf diesem Spröſsling des al[te]n Königshauses ruhten, und die ausserordentlichen Ereign[is]se, welche dieselben ver- anlaſst hatten, zu entdecken. Diese Hoffnungen ergreift Si- meon mit Zuversicht, und spricht nun seine messianischen Erwartungen und Befürchtungen, in der Überzeugung, daſs sie an diesem Kinde in Erfüllung gehen werden, in begei- sterter Rede aus. Noch weniger braucht man für die Han- na die Annahme des Verfs. der natürlichen Geschichte, daſs sie, als eine jener bei der Entbindung Marias anwe- senden Frauen, mit den auf dem Kinde ruhenden Hoffnun- gen schon vorher bekannt gewesen: sie hatte ja Simeons Reden gehört, und gleichgestimmt, wie sie war, gab sie denselben ihren Beifall.
So einfach diese natürliche Erklärung scheint: so ist sie doch auch hier nicht minder gewaltsam, als wir sie sonst gefunden haben. Denn daſs dem Simeon, ehe er in seine begeisterte Rede sich ergoſs, die Eltern Jesu etwas von ihren ausserordentlichen Erwartungen mitgetheilt hät- ten, sagt unser Referent nicht nur nirgends, sondern die Pointe seiner ganzen Erzählung besteht gerade darin, daſs der fromme Greis in Kraft des ihn erfüllenden Geistes Je- sum sogleich als das messianische Kind erkannt habe, und ebendeſswegen wird auch sein Verhältniſs zum πνεῦμα ἅγιον so hervorgehoben, um erklärbar zu machen, wie er auch ohne vorangegangene Mittheilung doch Jesum als den ihm Verheiſsenen zu erkennen und zugleich den Gang seines messianischen Schicksals vorherzusagen vermochte. Wie
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Viertes Kapitel. §. 34.
wahrscheinlich im Traum, die Gewiſsheit, ihn vor seinem
Ende noch sehen zu dürfen. Als er daher eines Tags dem
Drange nicht widerstehen kann, den Tempel zu besuchen,
und nun eben an diesem Tage Maria ihr Kind dahin brach-
te, dessen Schönheit ihn schon anzog: so wurde, als sie ihm
vollends die Davidische Abkunft des Kindes eröffnete, die
Aufmerksamkeit und Theilnahme des Mannes in einem Grade
rege, welcher die Maria bewog, ihm die Hoffnungen, wel-
che auf diesem Spröſsling des alten Königshauses ruhten,
und die ausserordentlichen Ereignisse, welche dieselben ver-
anlaſst hatten, zu entdecken. Diese Hoffnungen ergreift Si-
meon mit Zuversicht, und spricht nun seine messianischen
Erwartungen und Befürchtungen, in der Überzeugung, daſs
sie an diesem Kinde in Erfüllung gehen werden, in begei-
sterter Rede aus. Noch weniger braucht man für die Han-
na die Annahme des Verfs. der natürlichen Geschichte,
daſs sie, als eine jener bei der Entbindung Marias anwe-
senden Frauen, mit den auf dem Kinde ruhenden Hoffnun-
gen schon vorher bekannt gewesen: sie hatte ja Simeons
Reden gehört, und gleichgestimmt, wie sie war, gab sie
denselben ihren Beifall.
So einfach diese natürliche Erklärung scheint: so ist
sie doch auch hier nicht minder gewaltsam, als wir sie
sonst gefunden haben. Denn daſs dem Simeon, ehe er in
seine begeisterte Rede sich ergoſs, die Eltern Jesu etwas
von ihren ausserordentlichen Erwartungen mitgetheilt hät-
ten, sagt unser Referent nicht nur nirgends, sondern die
Pointe seiner ganzen Erzählung besteht gerade darin, daſs
der fromme Greis in Kraft des ihn erfüllenden Geistes Je-
sum sogleich als das messianische Kind erkannt habe, und
ebendeſswegen wird auch sein Verhältniſs zum πνεῦμα ἅγιον
so hervorgehoben, um erklärbar zu machen, wie er auch
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/285>, abgerufen am 22.11.2024.
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