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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Fünftes Kapitel. §. 36.
gleichem Verhältniss mit Anderen zu bezeichnen. Man
darf sich auch nur die Frage vorlegen, ob es mit dem
Geiste unsrer Erzählung harmoniren würde, statt des ka-
thezomenon en meso ton didaskalon die Formel kath. paoa
tous podas t. d. zu setzen? so wird man sich diess gewiss
verneinen müssen, aber ebendamit anerkennen, dass unsre
Erzählung Jesum zu den Lehrern in ein anderes Verhält-
niss als in das eines Lernenden sezt, welches leztere doch
für einen, auch noch so begabten, Knaben von 12 Jahren
das allein naturgemässe ist. Denn dass in Jesum nichts
von aussen, von fremder Weisheit sich hineingebildet habe,
weil diess der Bestimmung des Messias, als des absolut
Bestimmenden, zuwider gewesen wäre, -- diese Behaup-
tung Olshausen's 18) widerspricht dem von ihm selbst vor-
angestellten kirchlichen Grundsatze, dass Jesus in seiner
menschlichen Erscheinung dem allgemein menschlichen Ent-
wicklungsgang gefolgt sei. Denn dieser besteht nicht blos
darin, dass es mit dem Menschen nur stufenweise aufwärts
geht, sondern das Wesentlichere ist diess, dass die Ent-
wickelung des Menschen, geistige wie leibliche, durch
das Wechselspiel von Aufnehmen und Einwirken bedingt
ist. Diess in Bezug auf Jesu leibliches Leben zu leugnen,
und z. B. zu sagen, die Speise, welche er zu sich genom-
men, habe nicht durch wirkliche Assimilation zur Nah-
rung und zum Wachsthum seines Leibes gedient, sondern
ihm nur Veranlassung gegeben, sich von innen heraus zu
reproduciren, diess würde Jedem als Doketismus in die
Augen fallen: und dieselbe Behauptung in Bezug auf seine
geistige Entwickelung, dass er nämlich nichts von aussen
in sich hineingebildet, sondern, was er von Andern hörte,
nur als Anlass gebraucht habe, aus sich selbst eine Wahr-
heit um die andere hervorzuholen, das sollte etwas An-
dres, als ein feinerer Doketismus sein? Wirklich auch,

18) a. a. O. S. 151.

Fünftes Kapitel. §. 36.
gleichem Verhältniſs mit Anderen zu bezeichnen. Man
darf sich auch nur die Frage vorlegen, ob es mit dem
Geiste unsrer Erzählung harmoniren würde, statt des κα-
ϑεζόμενον ἐν μέσῳ τῶν διδασκάλων die Formel καϑ. παοὰ
τούς πόδας τ. δ. zu setzen? so wird man sich dieſs gewiſs
verneinen müssen, aber ebendamit anerkennen, daſs unsre
Erzählung Jesum zu den Lehrern in ein anderes Verhält-
niſs als in das eines Lernenden sezt, welches leztere doch
für einen, auch noch so begabten, Knaben von 12 Jahren
das allein naturgemäſse ist. Denn daſs in Jesum nichts
von aussen, von fremder Weisheit sich hineingebildet habe,
weil dieſs der Bestimmung des Messias, als des absolut
Bestimmenden, zuwider gewesen wäre, — diese Behaup-
tung Olshausen's 18) widerspricht dem von ihm selbst vor-
angestellten kirchlichen Grundsatze, daſs Jesus in seiner
menschlichen Erscheinung dem allgemein menschlichen Ent-
wicklungsgang gefolgt sei. Denn dieser besteht nicht blos
darin, daſs es mit dem Menschen nur stufenweise aufwärts
geht, sondern das Wesentlichere ist dieſs, daſs die Ent-
wickelung des Menschen, geistige wie leibliche, durch
das Wechselspiel von Aufnehmen und Einwirken bedingt
ist. Dieſs in Bezug auf Jesu leibliches Leben zu leugnen,
und z. B. zu sagen, die Speise, welche er zu sich genom-
men, habe nicht durch wirkliche Assimilation zur Nah-
rung und zum Wachsthum seines Leibes gedient, sondern
ihm nur Veranlassung gegeben, sich von innen heraus zu
reproduciren, dieſs würde Jedem als Doketismus in die
Augen fallen: und dieselbe Behauptung in Bezug auf seine
geistige Entwickelung, daſs er nämlich nichts von aussen
in sich hineingebildet, sondern, was er von Andern hörte,
nur als Anlaſs gebraucht habe, aus sich selbst eine Wahr-
heit um die andere hervorzuholen, das sollte etwas An-
dres, als ein feinerer Doketismus sein? Wirklich auch,

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[283/0307] Fünftes Kapitel. §. 36. gleichem Verhältniſs mit Anderen zu bezeichnen. Man darf sich auch nur die Frage vorlegen, ob es mit dem Geiste unsrer Erzählung harmoniren würde, statt des κα- ϑεζόμενον ἐν μέσῳ τῶν διδασκάλων die Formel καϑ. παοὰ τούς πόδας τ. δ. zu setzen? so wird man sich dieſs gewiſs verneinen müssen, aber ebendamit anerkennen, daſs unsre Erzählung Jesum zu den Lehrern in ein anderes Verhält- niſs als in das eines Lernenden sezt, welches leztere doch für einen, auch noch so begabten, Knaben von 12 Jahren das allein naturgemäſse ist. Denn daſs in Jesum nichts von aussen, von fremder Weisheit sich hineingebildet habe, weil dieſs der Bestimmung des Messias, als des absolut Bestimmenden, zuwider gewesen wäre, — diese Behaup- tung Olshausen's 18) widerspricht dem von ihm selbst vor- angestellten kirchlichen Grundsatze, daſs Jesus in seiner menschlichen Erscheinung dem allgemein menschlichen Ent- wicklungsgang gefolgt sei. Denn dieser besteht nicht blos darin, daſs es mit dem Menschen nur stufenweise aufwärts geht, sondern das Wesentlichere ist dieſs, daſs die Ent- wickelung des Menschen, geistige wie leibliche, durch das Wechselspiel von Aufnehmen und Einwirken bedingt ist. Dieſs in Bezug auf Jesu leibliches Leben zu leugnen, und z. B. zu sagen, die Speise, welche er zu sich genom- men, habe nicht durch wirkliche Assimilation zur Nah- rung und zum Wachsthum seines Leibes gedient, sondern ihm nur Veranlassung gegeben, sich von innen heraus zu reproduciren, dieſs würde Jedem als Doketismus in die Augen fallen: und dieselbe Behauptung in Bezug auf seine geistige Entwickelung, daſs er nämlich nichts von aussen in sich hineingebildet, sondern, was er von Andern hörte, nur als Anlaſs gebraucht habe, aus sich selbst eine Wahr- heit um die andere hervorzuholen, das sollte etwas An- dres, als ein feinerer Doketismus sein? Wirklich auch, 18) a. a. O. S. 151.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/307>, abgerufen am 24.11.2024.