aber die apokryphischen Evangelien schon in seine erste Kindheit und Jugend. Mit dem fünften Jahre Jesu eröff- net das Evangelium Thomae seine Erzählungen von des- sen Wunderthaten 8), und das arabische Evangelium in- fantiae füllt schon die ägyptische Reise mit einer Masse von Mirakeln, welche die Mutter Jesu mittelst der Win- deln oder des Waschwassers ihres Kindes verrichtet 9). Die Wunder, welche nach diesen Apokryphen das Kind und der Knabe Jesus thut, sind theils den N. T.lichen analog, Heilungen und Todtenerweckungen; theils, ganz abwei- chend von dem in den kanonischen Evangelien herrschenden Typus, höchst widrige Strafwunder, vermöge deren Jeder, der dem Knaben Jesus in irgend etwas entgegen ist, er- lahmen oder gar sterben muss 10); oder völlig abenteuer- liche Stücke, wie die Belebung aus Koth geformter Sper- linge 11).
Das entgegengesezte Interesse der natürlichen Ansicht von Jesu, seine Erscheinung dem Causalitätsgesetze gemäss aus verwandten früheren und gleichzeitigen zu erklären, und daher seine Abhängigkeit und Receptivität hervorzu- heben, hat sich gleichfalls schon frühe, bei jüdischen und heidnischen Gegnern des Christenthums hervorgethan. Frei- lich, indem in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit der ganze geistige Boden bei Heiden wie bei Juden noch ein supranaturalistischer war: so konnte damals der Vorwurf, dass Jesus seine Einsichten und wunderähnli- chen Geschicklichkeiten nicht sich selbst oder Gott, son- dern einer Mittheilung von aussen verdanke, noch nicht die Gestalt annehmen, er habe auf dem gewöhnlichen Wege des Unterrichts natürliche Kunstfertigkeiten und Einsichten
8) cap. 2, S. 278 Thilo.
9) cap. 10 ff.
10) z. B. Evang. Thomae, c. 3--5. Evang. infant. arab. c. 46 f.
11) Evang. Thomae, c. 2. Evang. inf. arab. c. 36.
Erster Abschnitt.
aber die apokryphischen Evangelien schon in seine erste Kindheit und Jugend. Mit dem fünften Jahre Jesu eröff- net das Evangelium Thomae seine Erzählungen von des- sen Wunderthaten 8), und das arabische Evangelium in- fantiae füllt schon die ägyptische Reise mit einer Masse von Mirakeln, welche die Mutter Jesu mittelst der Win- deln oder des Waschwassers ihres Kindes verrichtet 9). Die Wunder, welche nach diesen Apokryphen das Kind und der Knabe Jesus thut, sind theils den N. T.lichen analog, Heilungen und Todtenerweckungen; theils, ganz abwei- chend von dem in den kanonischen Evangelien herrschenden Typus, höchst widrige Strafwunder, vermöge deren Jeder, der dem Knaben Jesus in irgend etwas entgegen ist, er- lahmen oder gar sterben muſs 10); oder völlig abenteuer- liche Stücke, wie die Belebung aus Koth geformter Sper- linge 11).
Das entgegengesezte Interesse der natürlichen Ansicht von Jesu, seine Erscheinung dem Causalitätsgesetze gemäſs aus verwandten früheren und gleichzeitigen zu erklären, und daher seine Abhängigkeit und Receptivität hervorzu- heben, hat sich gleichfalls schon frühe, bei jüdischen und heidnischen Gegnern des Christenthums hervorgethan. Frei- lich, indem in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit der ganze geistige Boden bei Heiden wie bei Juden noch ein supranaturalistischer war: so konnte damals der Vorwurf, daſs Jesus seine Einsichten und wunderähnli- chen Geschicklichkeiten nicht sich selbst oder Gott, son- dern einer Mittheilung von aussen verdanke, noch nicht die Gestalt annehmen, er habe auf dem gewöhnlichen Wege des Unterrichts natürliche Kunstfertigkeiten und Einsichten
8) cap. 2, S. 278 Thilo.
9) cap. 10 ff.
10) z. B. Evang. Thomae, c. 3—5. Evang. infant. arab. c. 46 f.
11) Evang. Thomae, c. 2. Evang. inf. arab. c. 36.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0326"n="302"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
aber die apokryphischen Evangelien schon in seine erste<lb/>
Kindheit und Jugend. Mit dem fünften Jahre Jesu eröff-<lb/>
net das <hirendition="#i">Evangelium Thomae</hi> seine Erzählungen von des-<lb/>
sen Wunderthaten <noteplace="foot"n="8)">cap. 2, S. 278 <hirendition="#k">Thilo</hi>.</note>, und das arabische <hirendition="#i">Evangelium in-<lb/>
fantiae</hi> füllt schon die ägyptische Reise mit einer Masse<lb/>
von Mirakeln, welche die Mutter Jesu mittelst der Win-<lb/>
deln oder des Waschwassers ihres Kindes verrichtet <noteplace="foot"n="9)">cap. 10 ff.</note>. Die<lb/>
Wunder, welche nach diesen Apokryphen das Kind und<lb/>
der Knabe Jesus thut, sind theils den N. T.lichen analog,<lb/>
Heilungen und Todtenerweckungen; theils, ganz abwei-<lb/>
chend von dem in den kanonischen Evangelien herrschenden<lb/>
Typus, höchst widrige Strafwunder, vermöge deren Jeder,<lb/>
der dem Knaben Jesus in irgend etwas entgegen ist, er-<lb/>
lahmen oder gar sterben muſs <noteplace="foot"n="10)">z. B. Evang. Thomae, c. 3—5. Evang. infant. arab. c. 46 f.</note>; oder völlig abenteuer-<lb/>
liche Stücke, wie die Belebung aus Koth geformter Sper-<lb/>
linge <noteplace="foot"n="11)">Evang. Thomae, c. 2. Evang. inf. arab. c. 36.</note>.</p><lb/><p>Das entgegengesezte Interesse der natürlichen Ansicht<lb/>
von Jesu, seine Erscheinung dem Causalitätsgesetze gemäſs<lb/>
aus verwandten früheren und gleichzeitigen zu erklären,<lb/>
und daher seine Abhängigkeit und Receptivität hervorzu-<lb/>
heben, hat sich gleichfalls schon frühe, bei jüdischen und<lb/>
heidnischen Gegnern des Christenthums hervorgethan. Frei-<lb/>
lich, indem in den ersten Jahrhunderten der christlichen<lb/>
Zeit der ganze geistige Boden bei Heiden wie bei Juden<lb/>
noch ein supranaturalistischer war: so konnte damals der<lb/>
Vorwurf, daſs Jesus seine Einsichten und wunderähnli-<lb/>
chen Geschicklichkeiten nicht sich selbst oder Gott, son-<lb/>
dern einer Mittheilung von aussen verdanke, noch nicht<lb/>
die Gestalt annehmen, er habe auf dem gewöhnlichen Wege<lb/>
des Unterrichts natürliche Kunstfertigkeiten und Einsichten<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[302/0326]
Erster Abschnitt.
aber die apokryphischen Evangelien schon in seine erste
Kindheit und Jugend. Mit dem fünften Jahre Jesu eröff-
net das Evangelium Thomae seine Erzählungen von des-
sen Wunderthaten 8), und das arabische Evangelium in-
fantiae füllt schon die ägyptische Reise mit einer Masse
von Mirakeln, welche die Mutter Jesu mittelst der Win-
deln oder des Waschwassers ihres Kindes verrichtet 9). Die
Wunder, welche nach diesen Apokryphen das Kind und
der Knabe Jesus thut, sind theils den N. T.lichen analog,
Heilungen und Todtenerweckungen; theils, ganz abwei-
chend von dem in den kanonischen Evangelien herrschenden
Typus, höchst widrige Strafwunder, vermöge deren Jeder,
der dem Knaben Jesus in irgend etwas entgegen ist, er-
lahmen oder gar sterben muſs 10); oder völlig abenteuer-
liche Stücke, wie die Belebung aus Koth geformter Sper-
linge 11).
Das entgegengesezte Interesse der natürlichen Ansicht
von Jesu, seine Erscheinung dem Causalitätsgesetze gemäſs
aus verwandten früheren und gleichzeitigen zu erklären,
und daher seine Abhängigkeit und Receptivität hervorzu-
heben, hat sich gleichfalls schon frühe, bei jüdischen und
heidnischen Gegnern des Christenthums hervorgethan. Frei-
lich, indem in den ersten Jahrhunderten der christlichen
Zeit der ganze geistige Boden bei Heiden wie bei Juden
noch ein supranaturalistischer war: so konnte damals der
Vorwurf, daſs Jesus seine Einsichten und wunderähnli-
chen Geschicklichkeiten nicht sich selbst oder Gott, son-
dern einer Mittheilung von aussen verdanke, noch nicht
die Gestalt annehmen, er habe auf dem gewöhnlichen Wege
des Unterrichts natürliche Kunstfertigkeiten und Einsichten
8) cap. 2, S. 278 Thilo.
9) cap. 10 ff.
10) z. B. Evang. Thomae, c. 3—5. Evang. infant. arab. c. 46 f.
11) Evang. Thomae, c. 2. Evang. inf. arab. c. 36.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/326>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.