Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Erster Abschnitt. heit ausgegangen wird; ob ferner dieser äusseren Einwir-kung gegenüber die innere Begabung und freie Selbstbe- stimmung Jesu gehörig berücksichtigt wird oder nicht. -- Unter den damals gegebenen Bildungsmomenten lagen die drei jüdischen Sekten am nächsten, unter welchen aber freilich die von Jesu später so sehr bestrittenen Pharisäer nur als negatives Bildungsmittel für ihn in Betracht kom- men können. Eher könnte man an die Gegner der Phari- säer, an die sadducäische Sekte, denken, und es hat wirk- lich nicht an Solchen gefehlt, welche in dem, die phari- säische Tradition und Heuchelei verwerfenden Sadducäis- mus eine Schule für Jesum gefunden haben 14). Noch mehr leuchtete aber Andern die Sekte der Essener mit ih- rer strengen Sittenzucht, ihrer Verwerfung des Eides und ihrer Gütergemeinschaft als vergleichbar ein, und beson- ders war es ihr, dem pythagoräischen ähnlich organisirter Bund, welcher in der Zeit der Freimaurerei und gehei- men Orden unter uns die Einbildungskraft vieler Schrift- steller so weit bestach, dass sie auch Jesum, wie ohnehin seinen Vorläufer Johannes, als Mitglieder und geheime Emissäre dieses Bundes betrachteten 15). Was Theologen wie Stäudlin zu dieser Combination bewog, war nicht blos die Verwandtschaft der Lehre und des Plans Jesu mit den Grundsätzen der Essener, sondern vorzüglich auch der Umstand, dass das plötzliche Verschwinden Jesu vom Schauplatze, nachdem er durch die Schicksale seiner Kind- heit und so eben noch durch seinen Auftritt im Tempel so grosses Aufsehen erregt hatte, durch ein Zurücktreten in einen geheimen Orden am besten erklärt zu werden schien. Für dieses Zurücktreten nun brauchen wir nach unsrer Auf- fassung der Kindheitsgeschichte keine Erklärung mehr, und 14) z. B. des Cotes, Schutzschrift für Jesus von Nazaret, S. 128 ff. 15) So nach englischen Deisten und Friedrich d. Gr. namentlich
Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu 1, S. 570 ff. Erster Abschnitt. heit ausgegangen wird; ob ferner dieser äusseren Einwir-kung gegenüber die innere Begabung und freie Selbstbe- stimmung Jesu gehörig berücksichtigt wird oder nicht. — Unter den damals gegebenen Bildungsmomenten lagen die drei jüdischen Sekten am nächsten, unter welchen aber freilich die von Jesu später so sehr bestrittenen Pharisäer nur als negatives Bildungsmittel für ihn in Betracht kom- men können. Eher könnte man an die Gegner der Phari- säer, an die sadducäische Sekte, denken, und es hat wirk- lich nicht an Solchen gefehlt, welche in dem, die phari- säische Tradition und Heuchelei verwerfenden Sadducäis- mus eine Schule für Jesum gefunden haben 14). Noch mehr leuchtete aber Andern die Sekte der Essener mit ih- rer strengen Sittenzucht, ihrer Verwerfung des Eides und ihrer Gütergemeinschaft als vergleichbar ein, und beson- ders war es ihr, dem pythagoräischen ähnlich organisirter Bund, welcher in der Zeit der Freimaurerei und gehei- men Orden unter uns die Einbildungskraft vieler Schrift- steller so weit bestach, daſs sie auch Jesum, wie ohnehin seinen Vorläufer Johannes, als Mitglieder und geheime Emissäre dieses Bundes betrachteten 15). Was Theologen wie Stäudlin zu dieser Combination bewog, war nicht blos die Verwandtschaft der Lehre und des Plans Jesu mit den Grundsätzen der Essener, sondern vorzüglich auch der Umstand, daſs das plötzliche Verschwinden Jesu vom Schauplatze, nachdem er durch die Schicksale seiner Kind- heit und so eben noch durch seinen Auftritt im Tempel so groſses Aufsehen erregt hatte, durch ein Zurücktreten in einen geheimen Orden am besten erklärt zu werden schien. Für dieses Zurücktreten nun brauchen wir nach unsrer Auf- fassung der Kindheitsgeschichte keine Erklärung mehr, und 14) z. B. des Côtes, Schutzschrift für Jesus von Nazaret, S. 128 ff. 15) So nach englischen Deisten und Friedrich d. Gr. namentlich
Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu 1, S. 570 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0328" n="304"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/> heit ausgegangen wird; ob ferner dieser äusseren Einwir-<lb/> kung gegenüber die innere Begabung und freie Selbstbe-<lb/> stimmung Jesu gehörig berücksichtigt wird oder nicht. —<lb/> Unter den damals gegebenen Bildungsmomenten lagen die<lb/> drei jüdischen Sekten am nächsten, unter welchen aber<lb/> freilich die von Jesu später so sehr bestrittenen Pharisäer<lb/> nur als negatives Bildungsmittel für ihn in Betracht kom-<lb/> men können. Eher könnte man an die Gegner der Phari-<lb/> säer, an die sadducäische Sekte, denken, und es hat wirk-<lb/> lich nicht an Solchen gefehlt, welche in dem, die phari-<lb/> säische Tradition und Heuchelei verwerfenden Sadducäis-<lb/> mus eine Schule für Jesum gefunden haben <note place="foot" n="14)">z. B. <hi rendition="#k">des Côtes</hi>, Schutzschrift für Jesus von Nazaret, S. 128 ff.</note>. Noch<lb/> mehr leuchtete aber Andern die Sekte der Essener mit ih-<lb/> rer strengen Sittenzucht, ihrer Verwerfung des Eides und<lb/> ihrer Gütergemeinschaft als vergleichbar ein, und beson-<lb/> ders war es ihr, dem pythagoräischen ähnlich organisirter<lb/> Bund, welcher in der Zeit der Freimaurerei und gehei-<lb/> men Orden unter uns die Einbildungskraft vieler Schrift-<lb/> steller so weit bestach, daſs sie auch Jesum, wie ohnehin<lb/> seinen Vorläufer Johannes, als Mitglieder und geheime<lb/> Emissäre dieses Bundes betrachteten <note place="foot" n="15)">So nach englischen Deisten und Friedrich d. Gr. namentlich<lb/><hi rendition="#k">Stäudlin</hi>, Geschichte der Sittenlehre Jesu 1, S. 570 ff.</note>. Was Theologen<lb/> wie <hi rendition="#k">Stäudlin</hi> zu dieser Combination bewog, war nicht<lb/> blos die Verwandtschaft der Lehre und des Plans Jesu<lb/> mit den Grundsätzen der Essener, sondern vorzüglich auch<lb/> der Umstand, daſs das plötzliche Verschwinden Jesu vom<lb/> Schauplatze, nachdem er durch die Schicksale seiner Kind-<lb/> heit und so eben noch durch seinen Auftritt im Tempel so<lb/> groſses Aufsehen erregt hatte, durch ein Zurücktreten in einen<lb/> geheimen Orden am besten erklärt zu werden schien. Für<lb/> dieses Zurücktreten nun brauchen wir nach unsrer Auf-<lb/> fassung der Kindheitsgeschichte keine Erklärung mehr, und<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [304/0328]
Erster Abschnitt.
heit ausgegangen wird; ob ferner dieser äusseren Einwir-
kung gegenüber die innere Begabung und freie Selbstbe-
stimmung Jesu gehörig berücksichtigt wird oder nicht. —
Unter den damals gegebenen Bildungsmomenten lagen die
drei jüdischen Sekten am nächsten, unter welchen aber
freilich die von Jesu später so sehr bestrittenen Pharisäer
nur als negatives Bildungsmittel für ihn in Betracht kom-
men können. Eher könnte man an die Gegner der Phari-
säer, an die sadducäische Sekte, denken, und es hat wirk-
lich nicht an Solchen gefehlt, welche in dem, die phari-
säische Tradition und Heuchelei verwerfenden Sadducäis-
mus eine Schule für Jesum gefunden haben 14). Noch
mehr leuchtete aber Andern die Sekte der Essener mit ih-
rer strengen Sittenzucht, ihrer Verwerfung des Eides und
ihrer Gütergemeinschaft als vergleichbar ein, und beson-
ders war es ihr, dem pythagoräischen ähnlich organisirter
Bund, welcher in der Zeit der Freimaurerei und gehei-
men Orden unter uns die Einbildungskraft vieler Schrift-
steller so weit bestach, daſs sie auch Jesum, wie ohnehin
seinen Vorläufer Johannes, als Mitglieder und geheime
Emissäre dieses Bundes betrachteten 15). Was Theologen
wie Stäudlin zu dieser Combination bewog, war nicht
blos die Verwandtschaft der Lehre und des Plans Jesu
mit den Grundsätzen der Essener, sondern vorzüglich auch
der Umstand, daſs das plötzliche Verschwinden Jesu vom
Schauplatze, nachdem er durch die Schicksale seiner Kind-
heit und so eben noch durch seinen Auftritt im Tempel so
groſses Aufsehen erregt hatte, durch ein Zurücktreten in einen
geheimen Orden am besten erklärt zu werden schien. Für
dieses Zurücktreten nun brauchen wir nach unsrer Auf-
fassung der Kindheitsgeschichte keine Erklärung mehr, und
14) z. B. des Côtes, Schutzschrift für Jesus von Nazaret, S. 128 ff.
15) So nach englischen Deisten und Friedrich d. Gr. namentlich
Stäudlin, Geschichte der Sittenlehre Jesu 1, S. 570 ff.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |