Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Einleitung. §. 6. solche Einwirkung entweder allen Völkern in ihrer Urzeitzugeschrieben, oder allen abgesprochen werden müsse. Bei allen Völkern, bemerkte er, in Griechenland wie im Orient, ward alles Unerwartete und Unbegriffene auf die Gottheit zurückgeführt; die weisen Männer dieser Völker lebten immer im Umgang mit höheren Wesen. Während man diese Darstellung (so giebt Eichhorn den Stand der Sache weiter an) in Bezug auf die hebräische Geschichte immer wörtlich und buchstäblich verstand, pflegte man bei Nicht- hebräern solche Erscheinungen bisher insgemein durch die Voraussetzung eines Betrugs und grober Lügen, oder ent- stellter und verdorbener Sagen zu erklären. Offenbar aber, meint Eichhorn, fordere die Gerechtigkeit, Hebräer und Nichthebräer auf gleiche Weise zu behandeln, so dass man entweder alle Nationen während ihres Kindheitszustan- des mit den Hebräern unter gleichem Einfluss höherer Wesen stehen lassen, oder einen solchen Einfluss auf bei- den Seiten leugnen müsse. Denselben allgemein anzu- nehmen, sei bedenklich wegen des nicht selten irrigen In- haltes der unter jenem Einfluss angeblich geoffenbarten Re- ligionen; wegen der Schwierigkeit, aus jenem Zustande der Bevormundung heraus das Erstarken der Menschheit zur Selbstständigkeit zu erklären; endlich weil, je heller die Zeiten und zuverlässiger die Nachrichten werden, jene unmittelbaren Einflüsse der Gottheit immer mehr verschwin- den. Wenn somit die Einwirkung höherer Wesen bei Hebräern wie bei andern Völkern geleugnet werden muss: so scheint sich, nach Eichhorn, zuerst die Ansicht, welche man bisher auf das heidnische Alterthum anwendete, auch für die Urgeschichte des hebräischen Volkes darzubieten, dass nämlich dem Vorgeben jener Offenbarungen Betrug und Lüge, oder den Berichten davon entstellte und verdor- bene Sagen zum Grunde liegen, eine Ansicht, welche wirk- lich der Fragmentist gegen die A. T.liche Geschichte gewendet hat. Allein näher betrachtet, sagt Eichhorn, muss man Das Leben Jesu I. Band. 2
Einleitung. §. 6. solche Einwirkung entweder allen Völkern in ihrer Urzeitzugeschrieben, oder allen abgesprochen werden müsse. Bei allen Völkern, bemerkte er, in Griechenland wie im Orient, ward alles Unerwartete und Unbegriffene auf die Gottheit zurückgeführt; die weisen Männer dieser Völker lebten immer im Umgang mit höheren Wesen. Während man diese Darstellung (so giebt Eichhorn den Stand der Sache weiter an) in Bezug auf die hebräische Geschichte immer wörtlich und buchstäblich verstand, pflegte man bei Nicht- hebräern solche Erscheinungen bisher insgemein durch die Voraussetzung eines Betrugs und grober Lügen, oder ent- stellter und verdorbener Sagen zu erklären. Offenbar aber, meint Eichhorn, fordere die Gerechtigkeit, Hebräer und Nichthebräer auf gleiche Weise zu behandeln, so daſs man entweder alle Nationen während ihres Kindheitszustan- des mit den Hebräern unter gleichem Einfluſs höherer Wesen stehen lassen, oder einen solchen Einfluſs auf bei- den Seiten leugnen müsse. Denselben allgemein anzu- nehmen, sei bedenklich wegen des nicht selten irrigen In- haltes der unter jenem Einfluſs angeblich geoffenbarten Re- ligionen; wegen der Schwierigkeit, aus jenem Zustande der Bevormundung heraus das Erstarken der Menschheit zur Selbstständigkeit zu erklären; endlich weil, je heller die Zeiten und zuverlässiger die Nachrichten werden, jene unmittelbaren Einflüsse der Gottheit immer mehr verschwin- den. Wenn somit die Einwirkung höherer Wesen bei Hebräern wie bei andern Völkern geleugnet werden muſs: so scheint sich, nach Eichhorn, zuerst die Ansicht, welche man bisher auf das heidnische Alterthum anwendete, auch für die Urgeschichte des hebräischen Volkes darzubieten, daſs nämlich dem Vorgeben jener Offenbarungen Betrug und Lüge, oder den Berichten davon entstellte und verdor- bene Sagen zum Grunde liegen, eine Ansicht, welche wirk- lich der Fragmentist gegen die A. T.liche Geschichte gewendet hat. Allein näher betrachtet, sagt Eichhorn, muſs man Das Leben Jesu I. Band. 2
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Einleitung. §. 6.
solche Einwirkung entweder allen Völkern in ihrer Urzeit
zugeschrieben, oder allen abgesprochen werden müsse. Bei
allen Völkern, bemerkte er, in Griechenland wie im Orient,
ward alles Unerwartete und Unbegriffene auf die Gottheit
zurückgeführt; die weisen Männer dieser Völker lebten
immer im Umgang mit höheren Wesen. Während man
diese Darstellung (so giebt Eichhorn den Stand der Sache
weiter an) in Bezug auf die hebräische Geschichte immer
wörtlich und buchstäblich verstand, pflegte man bei Nicht-
hebräern solche Erscheinungen bisher insgemein durch die
Voraussetzung eines Betrugs und grober Lügen, oder ent-
stellter und verdorbener Sagen zu erklären. Offenbar aber,
meint Eichhorn, fordere die Gerechtigkeit, Hebräer und
Nichthebräer auf gleiche Weise zu behandeln, so daſs
man entweder alle Nationen während ihres Kindheitszustan-
des mit den Hebräern unter gleichem Einfluſs höherer
Wesen stehen lassen, oder einen solchen Einfluſs auf bei-
den Seiten leugnen müsse. Denselben allgemein anzu-
nehmen, sei bedenklich wegen des nicht selten irrigen In-
haltes der unter jenem Einfluſs angeblich geoffenbarten Re-
ligionen; wegen der Schwierigkeit, aus jenem Zustande der
Bevormundung heraus das Erstarken der Menschheit zur
Selbstständigkeit zu erklären; endlich weil, je heller die
Zeiten und zuverlässiger die Nachrichten werden, jene
unmittelbaren Einflüsse der Gottheit immer mehr verschwin-
den. Wenn somit die Einwirkung höherer Wesen bei
Hebräern wie bei andern Völkern geleugnet werden muſs:
so scheint sich, nach Eichhorn, zuerst die Ansicht, welche
man bisher auf das heidnische Alterthum anwendete, auch
für die Urgeschichte des hebräischen Volkes darzubieten,
daſs nämlich dem Vorgeben jener Offenbarungen Betrug
und Lüge, oder den Berichten davon entstellte und verdor-
bene Sagen zum Grunde liegen, eine Ansicht, welche wirk-
lich der Fragmentist gegen die A. T.liche Geschichte gewendet
hat. Allein näher betrachtet, sagt Eichhorn, muſs man
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