Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Einleitung. §. 6. und weiter erzählt wird, eine Vermengung, welche sichbesonders auch in den geschichtlichen Büchern des N. T. s zeigt, da zur Zeit Jesu noch immer die Neigung herr- schend war, jedes auffallende Erlebniss sofort von einer unsichtbaren, übermenschlichen Ursache abzuleiten. Die Hauptaufgabe des pragmatischen Historikers, namentlich in Bezug auf das N. T., ist daher, diese beiden so eng ver- wachsenen und doch so verschiedenartigen Bestandtheile zu sondern, und aus der Hülle von persönlichen und Zeitmeinungen den reinen Kern des Faktums herauszu- schälen. Das Verfahren, welches er hiebei zu Hülfe zu nehmen hat, ist, wo ihm keine reiner gehaltene Relation als berichtigende Parallele zu Gebote steht, diess, dass er sich auf den Schauplatz der Begebenheiten und in den Standpunkt der Zeit möglichst lebhaft versetze, und von diesem aus die Erzählung durch vorauszusetzende erklä- rende Nebenumstände zu ergänzen suche, welche der Er- zähler selbst, in seinem supranaturalistischen Urtheil be- fangen, oft nicht einmal andeutete. In welcher Weise die- sen Grundsätzen zu Folge Paulus in seinem Commentar und neuerlich auch in seiner Schrift über das Leben Je- su 7) die neutestamentliche Geschichte behandelt hat, ist bekannt. Indem er die historische Wahrheit der Erzäh- lungen durchaus festhält, und einen engen chronologischen und pragmatischen Zusammenhang in die evangelische Ge- schichte zu bringen strebt, entzieht er derselben jeden un- mittelbar göttlichen Gehalt, und läugnet jedes übernatür- liche Einwirken höherer Kräfte. Nicht der Sohn Gottes im Sinne der kirchlichen Ansicht ist ihm Jesus, sondern ein weiser und tugendhafter Mensch, und nicht Wunder sind es, die er vollbringt, sondern Thaten bald der Freund- lichkeit und Menschenliebe, bald der ärztlichen Geschick- lichkeit, bald auch des Zufalls und guten Glückes 8). 7) Heidelberg 1828. 2 Bde. 8) Wie sich unter den Vorläufern von Paulus besonders Bahrdt
Einleitung. §. 6. und weiter erzählt wird, eine Vermengung, welche sichbesonders auch in den geschichtlichen Büchern des N. T. s zeigt, da zur Zeit Jesu noch immer die Neigung herr- schend war, jedes auffallende Erlebniſs sofort von einer unsichtbaren, übermenschlichen Ursache abzuleiten. Die Hauptaufgabe des pragmatischen Historikers, namentlich in Bezug auf das N. T., ist daher, diese beiden so eng ver- wachsenen und doch so verschiedenartigen Bestandtheile zu sondern, und aus der Hülle von persönlichen und Zeitmeinungen den reinen Kern des Faktums herauszu- schälen. Das Verfahren, welches er hiebei zu Hülfe zu nehmen hat, ist, wo ihm keine reiner gehaltene Relation als berichtigende Parallele zu Gebote steht, dieſs, daſs er sich auf den Schauplatz der Begebenheiten und in den Standpunkt der Zeit möglichst lebhaft versetze, und von diesem aus die Erzählung durch vorauszusetzende erklä- rende Nebenumstände zu ergänzen suche, welche der Er- zähler selbst, in seinem supranaturalistischen Urtheil be- fangen, oft nicht einmal andeutete. In welcher Weise die- sen Grundsätzen zu Folge Paulus in seinem Commentar und neuerlich auch in seiner Schrift über das Leben Je- su 7) die neutestamentliche Geschichte behandelt hat, ist bekannt. Indem er die historische Wahrheit der Erzäh- lungen durchaus festhält, und einen engen chronologischen und pragmatischen Zusammenhang in die evangelische Ge- schichte zu bringen strebt, entzieht er derselben jeden un- mittelbar göttlichen Gehalt, und läugnet jedes übernatür- liche Einwirken höherer Kräfte. Nicht der Sohn Gottes im Sinne der kirchlichen Ansicht ist ihm Jesus, sondern ein weiser und tugendhafter Mensch, und nicht Wunder sind es, die er vollbringt, sondern Thaten bald der Freund- lichkeit und Menschenliebe, bald der ärztlichen Geschick- lichkeit, bald auch des Zufalls und guten Glückes 8). 7) Heidelberg 1828. 2 Bde. 8) Wie sich unter den Vorläufern von Paulus besonders Bahrdt
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Einleitung. §. 6.
und weiter erzählt wird, eine Vermengung, welche sich
besonders auch in den geschichtlichen Büchern des N. T. s
zeigt, da zur Zeit Jesu noch immer die Neigung herr-
schend war, jedes auffallende Erlebniſs sofort von einer
unsichtbaren, übermenschlichen Ursache abzuleiten. Die
Hauptaufgabe des pragmatischen Historikers, namentlich in
Bezug auf das N. T., ist daher, diese beiden so eng ver-
wachsenen und doch so verschiedenartigen Bestandtheile
zu sondern, und aus der Hülle von persönlichen und
Zeitmeinungen den reinen Kern des Faktums herauszu-
schälen. Das Verfahren, welches er hiebei zu Hülfe zu
nehmen hat, ist, wo ihm keine reiner gehaltene Relation
als berichtigende Parallele zu Gebote steht, dieſs, daſs er
sich auf den Schauplatz der Begebenheiten und in den
Standpunkt der Zeit möglichst lebhaft versetze, und von
diesem aus die Erzählung durch vorauszusetzende erklä-
rende Nebenumstände zu ergänzen suche, welche der Er-
zähler selbst, in seinem supranaturalistischen Urtheil be-
fangen, oft nicht einmal andeutete. In welcher Weise die-
sen Grundsätzen zu Folge Paulus in seinem Commentar
und neuerlich auch in seiner Schrift über das Leben Je-
su 7) die neutestamentliche Geschichte behandelt hat, ist
bekannt. Indem er die historische Wahrheit der Erzäh-
lungen durchaus festhält, und einen engen chronologischen
und pragmatischen Zusammenhang in die evangelische Ge-
schichte zu bringen strebt, entzieht er derselben jeden un-
mittelbar göttlichen Gehalt, und läugnet jedes übernatür-
liche Einwirken höherer Kräfte. Nicht der Sohn Gottes
im Sinne der kirchlichen Ansicht ist ihm Jesus, sondern
ein weiser und tugendhafter Mensch, und nicht Wunder
sind es, die er vollbringt, sondern Thaten bald der Freund-
lichkeit und Menschenliebe, bald der ärztlichen Geschick-
lichkeit, bald auch des Zufalls und guten Glückes 8).
7) Heidelberg 1828. 2 Bde.
8) Wie sich unter den Vorläufern von Paulus besonders Bahrdt
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