erklären lasse, da ja diese augenscheinlich nicht blos für Judäa schrieben (noch auch, nach jener Erklärung, Gali- läer waren) und zu Matthäus nicht in solchem Abhängig- keits-Verhältniss standen, dass sie über die von diesem gezogene Grenze nicht durch eigenthümliche Nachrichten hinauszugehen im Stande gewesen wären. Das Schönste aber ist, dass diese zwei Arten, den Widerspruch zwischen Johannes und den Synoptikern zu lösen, sich selbst ge- genseitig durch Widerspruch auflösen. Denn wenn nach der einen Annahme Matthäus wegen der Nähe, nach der andern wegen der Entfernung von dem judäischen Schau- plaz das auf diesem Vorgefallene soll verschwiegen haben: so zeigt die Erscheinung, dass man zur Erklärung eines und desselben Umstands gleich gut zwei entgegengesezte Hypothe- sen machen kann, dass beide sich gleich schlecht dazu eignen.
Wenn hienach derjenige Versuch, die bezeichnete Dif- ferenz zu lösen, welcher blos auf die örtlichen Verhält- nisse der Verfasser Rücksicht nimmt, nicht ausreicht: so muss höher hinaufgestiegen und auch Geist und Tendenz der evangelischen Schriften in Rechnung genommen werden. Von diesem Standpunkt aus hat man den Satz aufgestellt, dasselbe, was den Unterschied im Gehalte zwischen dem jo- hanneischen Evangelium und den synoptischen begründe, liege auch ihrer Abweichung in Hinsicht auf den Umfang zum Grunde, d. h. weil die jerusalemischen Reden Jesu, welche uns Johannes berichtet, um verstanden zu werden, eine höhere Entwickelung des Christenthums, als sie in der ersten apostolischen Zeit gegeben war, erfordert ha- ben, so sei das frühere Jerusalemische aus der ursprüngli- chen Evangelientradition, als deren Organe die Synoptiker schrieben, ausgeschlossen geblieben, und erst von dem spä- ter schreibenden Johannes zu einer Zeit, in welcher jene Entwicklung schon zum Theil vor sich gegangen war, nach- geholt worden 8). Allein unerachtet dieser Lösungsversuch
8)Kern, über den Ursprung des Evang. Matthäi, in der Tübin-
28*
Drittes Kapitel. §. 53.
erklären lasse, da ja diese augenscheinlich nicht blos für Judäa schrieben (noch auch, nach jener Erklärung, Gali- läer waren) und zu Matthäus nicht in solchem Abhängig- keits-Verhältniſs standen, daſs sie über die von diesem gezogene Grenze nicht durch eigenthümliche Nachrichten hinauszugehen im Stande gewesen wären. Das Schönste aber ist, daſs diese zwei Arten, den Widerspruch zwischen Johannes und den Synoptikern zu lösen, sich selbst ge- genseitig durch Widerspruch auflösen. Denn wenn nach der einen Annahme Matthäus wegen der Nähe, nach der andern wegen der Entfernung von dem judäischen Schau- plaz das auf diesem Vorgefallene soll verschwiegen haben: so zeigt die Erscheinung, daſs man zur Erklärung eines und desselben Umstands gleich gut zwei entgegengesezte Hypothe- sen machen kann, daſs beide sich gleich schlecht dazu eignen.
Wenn hienach derjenige Versuch, die bezeichnete Dif- ferenz zu lösen, welcher blos auf die örtlichen Verhält- nisse der Verfasser Rücksicht nimmt, nicht ausreicht: so muſs höher hinaufgestiegen und auch Geist und Tendenz der evangelischen Schriften in Rechnung genommen werden. Von diesem Standpunkt aus hat man den Satz aufgestellt, dasselbe, was den Unterschied im Gehalte zwischen dem jo- hanneischen Evangelium und den synoptischen begründe, liege auch ihrer Abweichung in Hinsicht auf den Umfang zum Grunde, d. h. weil die jerusalemischen Reden Jesu, welche uns Johannes berichtet, um verstanden zu werden, eine höhere Entwickelung des Christenthums, als sie in der ersten apostolischen Zeit gegeben war, erfordert ha- ben, so sei das frühere Jerusalemische aus der ursprüngli- chen Evangelientradition, als deren Organe die Synoptiker schrieben, ausgeschlossen geblieben, und erst von dem spä- ter schreibenden Johannes zu einer Zeit, in welcher jene Entwicklung schon zum Theil vor sich gegangen war, nach- geholt worden 8). Allein unerachtet dieser Lösungsversuch
8)Kern, über den Ursprung des Evang. Matthäi, in der Tübin-
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Drittes Kapitel. §. 53.
erklären lasse, da ja diese augenscheinlich nicht blos für
Judäa schrieben (noch auch, nach jener Erklärung, Gali-
läer waren) und zu Matthäus nicht in solchem Abhängig-
keits-Verhältniſs standen, daſs sie über die von diesem
gezogene Grenze nicht durch eigenthümliche Nachrichten
hinauszugehen im Stande gewesen wären. Das Schönste
aber ist, daſs diese zwei Arten, den Widerspruch zwischen
Johannes und den Synoptikern zu lösen, sich selbst ge-
genseitig durch Widerspruch auflösen. Denn wenn nach
der einen Annahme Matthäus wegen der Nähe, nach der
andern wegen der Entfernung von dem judäischen Schau-
plaz das auf diesem Vorgefallene soll verschwiegen haben:
so zeigt die Erscheinung, daſs man zur Erklärung eines und
desselben Umstands gleich gut zwei entgegengesezte Hypothe-
sen machen kann, daſs beide sich gleich schlecht dazu eignen.
Wenn hienach derjenige Versuch, die bezeichnete Dif-
ferenz zu lösen, welcher blos auf die örtlichen Verhält-
nisse der Verfasser Rücksicht nimmt, nicht ausreicht: so
muſs höher hinaufgestiegen und auch Geist und Tendenz
der evangelischen Schriften in Rechnung genommen werden.
Von diesem Standpunkt aus hat man den Satz aufgestellt,
dasselbe, was den Unterschied im Gehalte zwischen dem jo-
hanneischen Evangelium und den synoptischen begründe,
liege auch ihrer Abweichung in Hinsicht auf den Umfang
zum Grunde, d. h. weil die jerusalemischen Reden Jesu,
welche uns Johannes berichtet, um verstanden zu werden,
eine höhere Entwickelung des Christenthums, als sie in
der ersten apostolischen Zeit gegeben war, erfordert ha-
ben, so sei das frühere Jerusalemische aus der ursprüngli-
chen Evangelientradition, als deren Organe die Synoptiker
schrieben, ausgeschlossen geblieben, und erst von dem spä-
ter schreibenden Johannes zu einer Zeit, in welcher jene
Entwicklung schon zum Theil vor sich gegangen war, nach-
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8) Kern, über den Ursprung des Evang. Matthäi, in der Tübin-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/459>, abgerufen am 22.11.2024.
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