Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Drittes Kapitel. §. 54. neuestens dem Matthäus seine von Lukas abweichende fal-sche Einordnung dieser Erzählung zum bedeutenden Vor- wurf gemacht 5). Allein Ein Zug findet sich in allen drei Erzählungen, der es erschwert, den Vorfall in so ganz frühe Zeit zu setzen. Trat nämlich Jesus in dieser Weise zu Nazaret auf, ehe er Kapernaum zum Hauptschauplaz seiner Wirksamkeit gemacht hatte: so konnten die Naza- retaner nicht sagen, wie Jesus bei Lukas sie sagen lässt: osa ekousamen genomena en te Kapernaoum, poieoon kai ode en te patridi sou, noch auch konnten sie sich nach Mat- thäus und Markus über die dunameis Jesu wundern, wel- che, unerachtet der verwirrenden Verbindung mit der in Nazaret erprobten sophia, doch, weil ja Jesus in Nazaret damals kein oder nur wenige Wunder that, nothwendig als anderswo verrichtet gedacht werden müssen. Wunder- ten sich also die Nazaretaner und sahen scheel über die Thaten Jesu in Kapernaum: so musste Jesus schon vorher sich daselbst aufgehalten haben, und kann nicht erst in Folge des damaligen Auftritts in Nazaret dorthin gezogen sein. Hieraus wird deutlich, dass diese Erzählung ur- sprünglich für eine spätere Stellung gemacht und von Lu- kas nur durch Conjektur früher gestellt worden ist, wel- cher hiebei redlich wenn wir wollen, oder nachlässig ge- nug war, die nur bei der späteren Stellung denkbare Er- wähnung kapernaitischer Thaten Jesu stehen zu lassen 6). Neigt sich so in Betreff der Stellung der Begebenheit der Vortheil auf die Seite des Matthäus und Markus: so blei- ben wir über den Grund, welcher Jesum bewog, seinen Sitz von Nazaret nach Kapernaum zu verlegen, im Dun- keln, wenn nicht theils der Umstand, dass einige seiner vertrautesten Jünger dort zu Hause waren, theils der grös- sere Verkehr des Ortes etwas dazu beigetragen hat. 5) Sieffert, a. a. O. 6) Schleiermacher, a. a. O. S. 64. Das Leben Jesu I. Band. 29
Drittes Kapitel. §. 54. neuestens dem Matthäus seine von Lukas abweichende fal-sche Einordnung dieser Erzählung zum bedeutenden Vor- wurf gemacht 5). Allein Ein Zug findet sich in allen drei Erzählungen, der es erschwert, den Vorfall in so ganz frühe Zeit zu setzen. Trat nämlich Jesus in dieser Weise zu Nazaret auf, ehe er Kapernaum zum Hauptschauplaz seiner Wirksamkeit gemacht hatte: so konnten die Naza- retaner nicht sagen, wie Jesus bei Lukas sie sagen läſst: ὅσα ἠκούσαμεν γενόμενα ἐν τῇ Καπερναοὺμ, ποίηοον καὶ ὧδε ἐν τῇ πατρίδι σου, noch auch konnten sie sich nach Mat- thäus und Markus über die δυνάμεις Jesu wundern, wel- che, unerachtet der verwirrenden Verbindung mit der in Nazaret erprobten σοφία, doch, weil ja Jesus in Nazaret damals kein oder nur wenige Wunder that, nothwendig als anderswo verrichtet gedacht werden müssen. Wunder- ten sich also die Nazaretaner und sahen scheel über die Thaten Jesu in Kapernaum: so muſste Jesus schon vorher sich daselbst aufgehalten haben, und kann nicht erst in Folge des damaligen Auftritts in Nazaret dorthin gezogen sein. Hieraus wird deutlich, daſs diese Erzählung ur- sprünglich für eine spätere Stellung gemacht und von Lu- kas nur durch Conjektur früher gestellt worden ist, wel- cher hiebei redlich wenn wir wollen, oder nachläſsig ge- nug war, die nur bei der späteren Stellung denkbare Er- wähnung kapernaitischer Thaten Jesu stehen zu lassen 6). Neigt sich so in Betreff der Stellung der Begebenheit der Vortheil auf die Seite des Matthäus und Markus: so blei- ben wir über den Grund, welcher Jesum bewog, seinen Sitz von Nazaret nach Kapernaum zu verlegen, im Dun- keln, wenn nicht theils der Umstand, daſs einige seiner vertrautesten Jünger dort zu Hause waren, theils der grös- sere Verkehr des Ortes etwas dazu beigetragen hat. 5) Sieffert, a. a. O. 6) Schleiermacher, a. a. O. S. 64. Das Leben Jesu I. Band. 29
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Drittes Kapitel. §. 54.
neuestens dem Matthäus seine von Lukas abweichende fal-
sche Einordnung dieser Erzählung zum bedeutenden Vor-
wurf gemacht 5). Allein Ein Zug findet sich in allen drei
Erzählungen, der es erschwert, den Vorfall in so ganz
frühe Zeit zu setzen. Trat nämlich Jesus in dieser Weise
zu Nazaret auf, ehe er Kapernaum zum Hauptschauplaz
seiner Wirksamkeit gemacht hatte: so konnten die Naza-
retaner nicht sagen, wie Jesus bei Lukas sie sagen läſst:
ὅσα ἠκούσαμεν γενόμενα ἐν τῇ Καπερναοὺμ, ποίηοον καὶ ὧδε
ἐν τῇ πατρίδι σου, noch auch konnten sie sich nach Mat-
thäus und Markus über die δυνάμεις Jesu wundern, wel-
che, unerachtet der verwirrenden Verbindung mit der in
Nazaret erprobten σοφία, doch, weil ja Jesus in Nazaret
damals kein oder nur wenige Wunder that, nothwendig
als anderswo verrichtet gedacht werden müssen. Wunder-
ten sich also die Nazaretaner und sahen scheel über die
Thaten Jesu in Kapernaum: so muſste Jesus schon vorher
sich daselbst aufgehalten haben, und kann nicht erst in
Folge des damaligen Auftritts in Nazaret dorthin gezogen
sein. Hieraus wird deutlich, daſs diese Erzählung ur-
sprünglich für eine spätere Stellung gemacht und von Lu-
kas nur durch Conjektur früher gestellt worden ist, wel-
cher hiebei redlich wenn wir wollen, oder nachläſsig ge-
nug war, die nur bei der späteren Stellung denkbare Er-
wähnung kapernaitischer Thaten Jesu stehen zu lassen 6).
Neigt sich so in Betreff der Stellung der Begebenheit der
Vortheil auf die Seite des Matthäus und Markus: so blei-
ben wir über den Grund, welcher Jesum bewog, seinen
Sitz von Nazaret nach Kapernaum zu verlegen, im Dun-
keln, wenn nicht theils der Umstand, daſs einige seiner
vertrautesten Jünger dort zu Hause waren, theils der grös-
sere Verkehr des Ortes etwas dazu beigetragen hat.
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