Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Viertes Kapitel. §. 60. schensohn finden, indem vielleicht schon der Verfasser,und jedenfalls mancher Leser sich denselben als ein über- menschliches Wesen, das zuvor gleich den Engeln bei Gott gewesen, vorgestellt hat. Dass aber jeder, der diese Stelle auf den Messias bezog, und namentlich Jesus, sofern er sich nach derselben den Menschensohn nannte, auch an eine Präexistenz gedacht habe, lässt sich nicht beweisen; denn sein Kommen in des Himmels Wolken dachte er sich doch, wenn wir von Johannes absehen, nicht so, als wäre er, wie ein von jeher im Himmel zu Hause gewesener aus den Wolken auf die Erde herniedergekommen, son- dern nach Matth. 26, 65. (vrgl. Matth. 24, 25) so, dass er, der Erdgeborene, nach Vollendung seiner irdischen Lauf- bahn in den Himmel aufgenommen werden und von da zur Eröffnung seines Reiches wiederkehren werde, wo- durch also die Vorstellung des Kommens in den Wolken eine Wendung bekam, bei welcher sie nicht nothwendig eine Präexistenz in sich schloss. Sonst findet sich in den Proverbien, dem Sirach und dem Buch der Weisheit die Idee einer personifieirten und endlich selbst hypostasirten Weisheit Gottes, ebenso in den Psalmen und Propheten starke Personificationen des göttlichen Wortes 4); beson- ders wichtig aber ist, dass in Folge der Scheue des späte- ren Judenthums vor Anthropomorphismus in der Vorstel- lung vom göttlichen Wesen es gewöhnlich wurde, sein Sprechen, Erscheinen und unmittelbares Einwirken dem Wort (ymrm) oder der Wohnung (shkynt) Jehova's zuzu- schreiben, wie sich diess schon in dem uralten 5) Targum des Onkelos findet 6). Diese Vorstellungen, Anfangs blosse 4) S. die Nachweisung und Auslegung der Stellen bei Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 211 ff. 5) Winer, de Onkeloso, p. 10; vrgl. de Wette, Einleit. in das A. T. §. 58. 6) Bertholdt, Christologia Judacor. §§. 23--25. vrgl. Lücke,
a. a. O. S. 244 Anm. Viertes Kapitel. §. 60. schensohn finden, indem vielleicht schon der Verfasser,und jedenfalls mancher Leser sich denselben als ein über- menschliches Wesen, das zuvor gleich den Engeln bei Gott gewesen, vorgestellt hat. Daſs aber jeder, der diese Stelle auf den Messias bezog, und namentlich Jesus, sofern er sich nach derselben den Menschensohn nannte, auch an eine Präexistenz gedacht habe, läſst sich nicht beweisen; denn sein Kommen in des Himmels Wolken dachte er sich doch, wenn wir von Johannes absehen, nicht so, als wäre er, wie ein von jeher im Himmel zu Hause gewesener aus den Wolken auf die Erde herniedergekommen, son- dern nach Matth. 26, 65. (vrgl. Matth. 24, 25) so, daſs er, der Erdgeborene, nach Vollendung seiner irdischen Lauf- bahn in den Himmel aufgenommen werden und von da zur Eröffnung seines Reiches wiederkehren werde, wo- durch also die Vorstellung des Kommens in den Wolken eine Wendung bekam, bei welcher sie nicht nothwendig eine Präexistenz in sich schloſs. Sonst findet sich in den Proverbien, dem Sirach und dem Buch der Weisheit die Idee einer personifieirten und endlich selbst hypostasirten Weisheit Gottes, ebenso in den Psalmen und Propheten starke Personificationen des göttlichen Wortes 4); beson- ders wichtig aber ist, daſs in Folge der Scheue des späte- ren Judenthums vor Anthropomorphismus in der Vorstel- lung vom göttlichen Wesen es gewöhnlich wurde, sein Sprechen, Erscheinen und unmittelbares Einwirken dem Wort (ימראמ) oder der Wohnung (שכינתא) Jehova's zuzu- schreiben, wie sich dieſs schon in dem uralten 5) Targum des Onkelos findet 6). Diese Vorstellungen, Anfangs bloſse 4) S. die Nachweisung und Auslegung der Stellen bei Lücke, Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 211 ff. 5) Winer, de Onkeloso, p. 10; vrgl. de Wette, Einleit. in das A. T. §. 58. 6) Bertholdt, Christologia Judacor. §§. 23—25. vrgl. Lücke,
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Viertes Kapitel. §. 60.
schensohn finden, indem vielleicht schon der Verfasser,
und jedenfalls mancher Leser sich denselben als ein über-
menschliches Wesen, das zuvor gleich den Engeln bei Gott
gewesen, vorgestellt hat. Daſs aber jeder, der diese Stelle
auf den Messias bezog, und namentlich Jesus, sofern er
sich nach derselben den Menschensohn nannte, auch an
eine Präexistenz gedacht habe, läſst sich nicht beweisen;
denn sein Kommen in des Himmels Wolken dachte er sich
doch, wenn wir von Johannes absehen, nicht so, als wäre
er, wie ein von jeher im Himmel zu Hause gewesener
aus den Wolken auf die Erde herniedergekommen, son-
dern nach Matth. 26, 65. (vrgl. Matth. 24, 25) so, daſs er,
der Erdgeborene, nach Vollendung seiner irdischen Lauf-
bahn in den Himmel aufgenommen werden und von da
zur Eröffnung seines Reiches wiederkehren werde, wo-
durch also die Vorstellung des Kommens in den Wolken
eine Wendung bekam, bei welcher sie nicht nothwendig
eine Präexistenz in sich schloſs. Sonst findet sich in den
Proverbien, dem Sirach und dem Buch der Weisheit die
Idee einer personifieirten und endlich selbst hypostasirten
Weisheit Gottes, ebenso in den Psalmen und Propheten
starke Personificationen des göttlichen Wortes 4); beson-
ders wichtig aber ist, daſs in Folge der Scheue des späte-
ren Judenthums vor Anthropomorphismus in der Vorstel-
lung vom göttlichen Wesen es gewöhnlich wurde, sein
Sprechen, Erscheinen und unmittelbares Einwirken dem
Wort (ימראמ) oder der Wohnung (שכינתא) Jehova's zuzu-
schreiben, wie sich dieſs schon in dem uralten 5) Targum
des Onkelos findet 6). Diese Vorstellungen, Anfangs bloſse
4) S. die Nachweisung und Auslegung der Stellen bei Lücke,
Comm. zum Ev. Joh. 1, S. 211 ff.
5) Winer, de Onkeloso, p. 10; vrgl. de Wette, Einleit. in das
A. T. §. 58.
6) Bertholdt, Christologia Judacor. §§. 23—25. vrgl. Lücke,
a. a. O. S. 244 Anm.
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