das tima ton patera, das ou phoneuseis u. s. w., vor Allem aber das agapeseis Kurion ton theon kai ton plesion: aber der tiefgewurzelte Respect vor dem heiligen Gesezbuch machte, dass er um dieses wesentlichen Inhalts willen auch den unwesentlichen ehrte, was er um so eher konnte, da im Verhältniss zu dem in's Unsinnige übertriebenen Pedan- tismus der traditionellen Zusätze das Rituelle im Penta- teuch als höchst einfach erscheinen musste. Diesen lezte- ren Theil des Gesetzes zwar als göttlich entsprungenen fortan zu achten, ihn aber doch für abrogirt zu erklären mittelst der Idee einer göttlichen Erziehung des Menschen- geschlechts, vermöge welcher Gott für eine frühere Periode eine Anordnung nöthig finden konnte, welche später über- flüssig wird, dieser Gedanke des nomos paidagogos (Gal. 3, 24.) scheint in seiner Ausbildung erst dem Apostel Pau- lus anzugehören; wiewohl in der Äusserung Jesu, dass Gott dem alten Hebräervolk pros ten sklerokardian auton Manches zugelassen habe, was jezt, bei fortgeschrittener Bildung, nicht mehr angehe (Matth. 19, 8 f.), derselbe Ge- danke im Keime liegt.
Eine ähnliche Beschränkung der Dauer des Gesetzes von Seiten Jesu würde darin liegen, wenn er wirklich (was erst später untersucht werden kann) dem Tempel zu Je- rusalem den bei seiner baldigen Wiederkunft bevorstehen- den Untergang (Matth. 24.), und die Lösung der Gottes- verehrung von jeder lokalen Gebundenheit (Joh. 4.) voraus- verkündigt hat, da hiemit die ganze mosaische Form des Cultus fallen musste. Dass er Matth. 5, 18. das Gesez fort- dauern lässt, so lange Himmel und Erde stehen, widerspricht dem nicht, sobald man sich aus Matth. 24. erinnert, dass sich der Hebräer den Untergang seines Staats und Heilig- thums und das Ende der (alten) Welt im engsten Zusam- menhang dachte, so dass es dasselbe war zu sagen: so lan- ge der Tempel steht, wird das Gesez dauren, oder so lan-
Viertes Kapitel. §. 63.
das τίμα τὸν πατέρα, das οὐ φονεύσεις u. s. w., vor Allem aber das ἀγαπησεις Κύριον τὸν ϑεὸν καὶ τὸν πλησίον: aber der tiefgewurzelte Respect vor dem heiligen Gesezbuch machte, daſs er um dieses wesentlichen Inhalts willen auch den unwesentlichen ehrte, was er um so eher konnte, da im Verhältniſs zu dem in's Unsinnige übertriebenen Pedan- tismus der traditionellen Zusätze das Rituelle im Penta- teuch als höchst einfach erscheinen muſste. Diesen lezte- ren Theil des Gesetzes zwar als göttlich entsprungenen fortan zu achten, ihn aber doch für abrogirt zu erklären mittelst der Idee einer göttlichen Erziehung des Menschen- geschlechts, vermöge welcher Gott für eine frühere Periode eine Anordnung nöthig finden konnte, welche später über- flüssig wird, dieser Gedanke des νόμος παιδαγωγὸς (Gal. 3, 24.) scheint in seiner Ausbildung erst dem Apostel Pau- lus anzugehören; wiewohl in der Äusserung Jesu, daſs Gott dem alten Hebräervolk πρὸς τὴν σκληροκαρδίαν αὐτῶν Manches zugelassen habe, was jezt, bei fortgeschrittener Bildung, nicht mehr angehe (Matth. 19, 8 f.), derselbe Ge- danke im Keime liegt.
Eine ähnliche Beschränkung der Dauer des Gesetzes von Seiten Jesu würde darin liegen, wenn er wirklich (was erst später untersucht werden kann) dem Tempel zu Je- rusalem den bei seiner baldigen Wiederkunft bevorstehen- den Untergang (Matth. 24.), und die Lösung der Gottes- verehrung von jeder lokalen Gebundenheit (Joh. 4.) voraus- verkündigt hat, da hiemit die ganze mosaische Form des Cultus fallen muſste. Daſs er Matth. 5, 18. das Gesez fort- dauern läſst, so lange Himmel und Erde stehen, widerspricht dem nicht, sobald man sich aus Matth. 24. erinnert, daſs sich der Hebräer den Untergang seines Staats und Heilig- thums und das Ende der (alten) Welt im engsten Zusam- menhang dachte, so daſs es dasselbe war zu sagen: so lan- ge der Tempel steht, wird das Gesez dauren, oder so lan-
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Viertes Kapitel. §. 63.
das τίμα τὸν πατέρα, das οὐ φονεύσεις u. s. w., vor Allem
aber das ἀγαπησεις Κύριον τὸν ϑεὸν καὶ τὸν πλησίον: aber
der tiefgewurzelte Respect vor dem heiligen Gesezbuch
machte, daſs er um dieses wesentlichen Inhalts willen auch
den unwesentlichen ehrte, was er um so eher konnte, da
im Verhältniſs zu dem in's Unsinnige übertriebenen Pedan-
tismus der traditionellen Zusätze das Rituelle im Penta-
teuch als höchst einfach erscheinen muſste. Diesen lezte-
ren Theil des Gesetzes zwar als göttlich entsprungenen
fortan zu achten, ihn aber doch für abrogirt zu erklären
mittelst der Idee einer göttlichen Erziehung des Menschen-
geschlechts, vermöge welcher Gott für eine frühere Periode
eine Anordnung nöthig finden konnte, welche später über-
flüssig wird, dieser Gedanke des νόμος παιδαγωγὸς (Gal.
3, 24.) scheint in seiner Ausbildung erst dem Apostel Pau-
lus anzugehören; wiewohl in der Äusserung Jesu, daſs
Gott dem alten Hebräervolk πρὸς τὴν σκληροκαρδίαν αὐτῶν
Manches zugelassen habe, was jezt, bei fortgeschrittener
Bildung, nicht mehr angehe (Matth. 19, 8 f.), derselbe Ge-
danke im Keime liegt.
Eine ähnliche Beschränkung der Dauer des Gesetzes
von Seiten Jesu würde darin liegen, wenn er wirklich (was
erst später untersucht werden kann) dem Tempel zu Je-
rusalem den bei seiner baldigen Wiederkunft bevorstehen-
den Untergang (Matth. 24.), und die Lösung der Gottes-
verehrung von jeder lokalen Gebundenheit (Joh. 4.) voraus-
verkündigt hat, da hiemit die ganze mosaische Form des
Cultus fallen muſste. Daſs er Matth. 5, 18. das Gesez fort-
dauern läſst, so lange Himmel und Erde stehen, widerspricht
dem nicht, sobald man sich aus Matth. 24. erinnert, daſs
sich der Hebräer den Untergang seines Staats und Heilig-
thums und das Ende der (alten) Welt im engsten Zusam-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/525>, abgerufen am 22.11.2024.
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