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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Fünftes Kapitel. §. 66.
von einem Messias aus Nazaret sagt, macht er die berühm-
te Frage: ek Nazaret dunatai ti agathon einai (V. 47.);
Dass nun schon, als Jesus auftrat, Nazaret in besonderer
Verachtung gestanden, lässt sich, wie auch Lücke bemerkt 11),
durch kein einziges historisches Datum belegen, und es hat
alle Wahrscheinlichkeit, dass erst von den Gegnern des
Christenthums dieser Vaterstadt des von ihnen verworfenen
Messias ein Schandfleck angehängt worden ist. Zu Jesu
Zeit stand Nazaret nur in der Eigenschaft einer galiläischen
Stadt überhaupt bei den Judäern in Verachtung; aber in
diesem Sinne konnte Nathanael nicht auf dasselbe herab-
sehen, da er selbst ein Galiläer war (21, 2.). Leicht könnte
also hier eine spottende Frage, welche zur Zeit der Ab-
fassung des vierten Evangeliums die Christen oft von ihren
Gegnern hören mussten, schon einem Zeitgenossen Jesu in
den Mund gelegt sein, um durch die Art, wie diesem sein
Zweifel benommen wird, auch Andern ein erkhou kai ide zu-
zurufen. -- Wie nun Nathanael auf Jesum zukommt, soll
dieser über ihn das Urtheil gefällt haben: ide alethos Is-
raelites, en o dolos ouk esi (V. 48.). Paulus meint, von
Nathanael aus Kana, wohin er eben zur Hochzeit von Ver-
wandten gieng, könne Jesus wohl schon vorher gewusst
haben 12). Allein, war Nathanaels Charakter Jesu auf na-
türlichem Wege bekannt geworden, so musste er auf des-
sen Frage: pothen me ginoskeis; entweder ihn an die Ge-
legenheit erinnern, bei welcher sie schon früher Bekannt-
schaft gemacht, oder sich auf Andre berufen, die ihm von
Nathanael schon Gutes gesagt hatten; wenn er statt des-
sen von einem Wissen um den Aufenthalt Nathanaels un-
ter einem Feigenbaum spricht, welches den Schein des Wun-
derbaren hat: so wäre ein solches Benehmen, wenn irgend
eines, Charlatanerie gewesen. Da aber der Referent Jesu

11) S. 389 f.
12) a. a. O.
Das Leben Jesu I. Band. 34

Fünftes Kapitel. §. 66.
von einem Messias aus Nazaret sagt, macht er die berühm-
te Frage: ἐκ Ναζαρὲτ δύναταί τι ἀγαϑὸν εἶναι (V. 47.);
Daſs nun schon, als Jesus auftrat, Nazaret in besonderer
Verachtung gestanden, läſst sich, wie auch Lücke bemerkt 11),
durch kein einziges historisches Datum belegen, und es hat
alle Wahrscheinlichkeit, daſs erst von den Gegnern des
Christenthums dieser Vaterstadt des von ihnen verworfenen
Messias ein Schandfleck angehängt worden ist. Zu Jesu
Zeit stand Nazaret nur in der Eigenschaft einer galiläischen
Stadt überhaupt bei den Judäern in Verachtung; aber in
diesem Sinne konnte Nathanaël nicht auf dasselbe herab-
sehen, da er selbst ein Galiläer war (21, 2.). Leicht könnte
also hier eine spottende Frage, welche zur Zeit der Ab-
fassung des vierten Evangeliums die Christen oft von ihren
Gegnern hören muſsten, schon einem Zeitgenossen Jesu in
den Mund gelegt sein, um durch die Art, wie diesem sein
Zweifel benommen wird, auch Andern ein ἔρχου καὶ ἴδε zu-
zurufen. — Wie nun Nathanaël auf Jesum zukommt, soll
dieser über ihn das Urtheil gefällt haben: ἴδε ἀληϑῶς Ἰσ-
ραηλίτης, ἐν ᾦ δόλος οὐκ ἔςι (V. 48.). Paulus meint, von
Nathanaël aus Kana, wohin er eben zur Hochzeit von Ver-
wandten gieng, könne Jesus wohl schon vorher gewuſst
haben 12). Allein, war Nathanaëls Charakter Jesu auf na-
türlichem Wege bekannt geworden, so muſste er auf des-
sen Frage: πόϑεν με γινώσκεις; entweder ihn an die Ge-
legenheit erinnern, bei welcher sie schon früher Bekannt-
schaft gemacht, oder sich auf Andre berufen, die ihm von
Nathanaël schon Gutes gesagt hatten; wenn er statt des-
sen von einem Wissen um den Aufenthalt Nathanaëls un-
ter einem Feigenbaum spricht, welches den Schein des Wun-
derbaren hat: so wäre ein solches Benehmen, wenn irgend
eines, Charlatanerie gewesen. Da aber der Referent Jesu

11) S. 389 f.
12) a. a. O.
Das Leben Jesu I. Band. 34
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[529/0553] Fünftes Kapitel. §. 66. von einem Messias aus Nazaret sagt, macht er die berühm- te Frage: ἐκ Ναζαρὲτ δύναταί τι ἀγαϑὸν εἶναι (V. 47.); Daſs nun schon, als Jesus auftrat, Nazaret in besonderer Verachtung gestanden, läſst sich, wie auch Lücke bemerkt 11), durch kein einziges historisches Datum belegen, und es hat alle Wahrscheinlichkeit, daſs erst von den Gegnern des Christenthums dieser Vaterstadt des von ihnen verworfenen Messias ein Schandfleck angehängt worden ist. Zu Jesu Zeit stand Nazaret nur in der Eigenschaft einer galiläischen Stadt überhaupt bei den Judäern in Verachtung; aber in diesem Sinne konnte Nathanaël nicht auf dasselbe herab- sehen, da er selbst ein Galiläer war (21, 2.). Leicht könnte also hier eine spottende Frage, welche zur Zeit der Ab- fassung des vierten Evangeliums die Christen oft von ihren Gegnern hören muſsten, schon einem Zeitgenossen Jesu in den Mund gelegt sein, um durch die Art, wie diesem sein Zweifel benommen wird, auch Andern ein ἔρχου καὶ ἴδε zu- zurufen. — Wie nun Nathanaël auf Jesum zukommt, soll dieser über ihn das Urtheil gefällt haben: ἴδε ἀληϑῶς Ἰσ- ραηλίτης, ἐν ᾦ δόλος οὐκ ἔςι (V. 48.). Paulus meint, von Nathanaël aus Kana, wohin er eben zur Hochzeit von Ver- wandten gieng, könne Jesus wohl schon vorher gewuſst haben 12). Allein, war Nathanaëls Charakter Jesu auf na- türlichem Wege bekannt geworden, so muſste er auf des- sen Frage: πόϑεν με γινώσκεις; entweder ihn an die Ge- legenheit erinnern, bei welcher sie schon früher Bekannt- schaft gemacht, oder sich auf Andre berufen, die ihm von Nathanaël schon Gutes gesagt hatten; wenn er statt des- sen von einem Wissen um den Aufenthalt Nathanaëls un- ter einem Feigenbaum spricht, welches den Schein des Wun- derbaren hat: so wäre ein solches Benehmen, wenn irgend eines, Charlatanerie gewesen. Da aber der Referent Jesu 11) S. 389 f. 12) a. a. O. Das Leben Jesu I. Band. 34

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/553>, abgerufen am 21.11.2024.