Allwissenheit, wie man sie bei Gott sich vorzustellen pflegt, jederzeit um alle Fische in allen Seen, Flüssen und Mee- ren gewusst: so ist es mit seinem menschlichen Bewusst- sein aus; soll er aber nur etwa wenn er gerade über ein Wasser fuhr, von dem Treiben der Fische in demselben Kenntniss bekommen haben, so ist auch diess schon genug, um in seinem Gemüthe den Platz für wichtigere Gedan- ken zu versperren; endlich, soll er so etwas nicht immer und wesentlich gewusst haben, sondern es nur, so oft er wollte, haben wissen können: so begreift man nicht, wie in Jesu ein Antrieb entstehen konnte, dergleichen etwas zu erfahren, wie derjenige, dessen Beruf auf die Tiefen der menschlichen Herzen sich bezog, mit den fischreichen Tiefen der Gewässer sich zu befassen versucht sein mochte.
Doch ehe wir über diese Erzählung des Lukas ent- scheiden, müssen wir sie zuvor noch im Verhältniss zu der Berufungsgeschichte bei den zwei ersten Synoptikern betrachten, wobei die erste Frage das chronologische Ver- hältniss beider Begebenheiten betrifft. Dass nun der wun- derbare Fischzug bei Lukas vorangegangen, die Berufung bei den beiden andern aber erst nachgefolgt sei, diese Voraussetzung ist dadurch abgeschnitten, dass nach der starken Anhänglichkeit, welche durch jenes Wunder in den Jüngern angeregt war, keine neue Berufung nöthig sein konnte; oder, wenn die mit einem Wunder verknüpf- te Einladung nicht hingereicht hatte, die Männer bei Jesu festzuhalten, konnte er von dem Antiklimax einer später erlassenen kahlen und wunderlosen Aufforderung sich noch weniger Erfolg versprechen. Bei der umgekehrten Stellung könnte sich ein passender Klimax der beiden Einladungen zu ergeben scheinen: doch wozu überhaupt eine zweite, da die erste schon gewirkt hatte? Denn anzunehmen, dass die Brüder, welche ihm auf die erste hin nachgefolgt waren, ihn bis zur zweiten wieder verlassen gehabt, ist doch nur eine willkührliche Nothhülfe. Namentlich
Zweiter Abschnitt.
Allwissenheit, wie man sie bei Gott sich vorzustellen pflegt, jederzeit um alle Fische in allen Seen, Flüssen und Mee- ren gewuſst: so ist es mit seinem menschlichen Bewuſst- sein aus; soll er aber nur etwa wenn er gerade über ein Wasser fuhr, von dem Treiben der Fische in demselben Kenntniſs bekommen haben, so ist auch dieſs schon genug, um in seinem Gemüthe den Platz für wichtigere Gedan- ken zu versperren; endlich, soll er so etwas nicht immer und wesentlich gewuſst haben, sondern es nur, so oft er wollte, haben wissen können: so begreift man nicht, wie in Jesu ein Antrieb entstehen konnte, dergleichen etwas zu erfahren, wie derjenige, dessen Beruf auf die Tiefen der menschlichen Herzen sich bezog, mit den fischreichen Tiefen der Gewässer sich zu befassen versucht sein mochte.
Doch ehe wir über diese Erzählung des Lukas ent- scheiden, müssen wir sie zuvor noch im Verhältniſs zu der Berufungsgeschichte bei den zwei ersten Synoptikern betrachten, wobei die erste Frage das chronologische Ver- hältniſs beider Begebenheiten betrifft. Daſs nun der wun- derbare Fischzug bei Lukas vorangegangen, die Berufung bei den beiden andern aber erst nachgefolgt sei, diese Voraussetzung ist dadurch abgeschnitten, daſs nach der starken Anhänglichkeit, welche durch jenes Wunder in den Jüngern angeregt war, keine neue Berufung nöthig sein konnte; oder, wenn die mit einem Wunder verknüpf- te Einladung nicht hingereicht hatte, die Männer bei Jesu festzuhalten, konnte er von dem Antiklimax einer später erlassenen kahlen und wunderlosen Aufforderung sich noch weniger Erfolg versprechen. Bei der umgekehrten Stellung könnte sich ein passender Klimax der beiden Einladungen zu ergeben scheinen: doch wozu überhaupt eine zweite, da die erste schon gewirkt hatte? Denn anzunehmen, daſs die Brüder, welche ihm auf die erste hin nachgefolgt waren, ihn bis zur zweiten wieder verlassen gehabt, ist doch nur eine willkührliche Nothhülfe. Namentlich
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Zweiter Abschnitt.
Allwissenheit, wie man sie bei Gott sich vorzustellen pflegt,
jederzeit um alle Fische in allen Seen, Flüssen und Mee-
ren gewuſst: so ist es mit seinem menschlichen Bewuſst-
sein aus; soll er aber nur etwa wenn er gerade über ein
Wasser fuhr, von dem Treiben der Fische in demselben
Kenntniſs bekommen haben, so ist auch dieſs schon genug,
um in seinem Gemüthe den Platz für wichtigere Gedan-
ken zu versperren; endlich, soll er so etwas nicht immer
und wesentlich gewuſst haben, sondern es nur, so oft er
wollte, haben wissen können: so begreift man nicht, wie
in Jesu ein Antrieb entstehen konnte, dergleichen etwas
zu erfahren, wie derjenige, dessen Beruf auf die Tiefen
der menschlichen Herzen sich bezog, mit den fischreichen
Tiefen der Gewässer sich zu befassen versucht sein mochte.
Doch ehe wir über diese Erzählung des Lukas ent-
scheiden, müssen wir sie zuvor noch im Verhältniſs zu
der Berufungsgeschichte bei den zwei ersten Synoptikern
betrachten, wobei die erste Frage das chronologische Ver-
hältniſs beider Begebenheiten betrifft. Daſs nun der wun-
derbare Fischzug bei Lukas vorangegangen, die Berufung
bei den beiden andern aber erst nachgefolgt sei, diese
Voraussetzung ist dadurch abgeschnitten, daſs nach der
starken Anhänglichkeit, welche durch jenes Wunder in
den Jüngern angeregt war, keine neue Berufung nöthig
sein konnte; oder, wenn die mit einem Wunder verknüpf-
te Einladung nicht hingereicht hatte, die Männer bei Jesu
festzuhalten, konnte er von dem Antiklimax einer später
erlassenen kahlen und wunderlosen Aufforderung sich noch
weniger Erfolg versprechen. Bei der umgekehrten Stellung
könnte sich ein passender Klimax der beiden Einladungen
zu ergeben scheinen: doch wozu überhaupt eine zweite,
da die erste schon gewirkt hatte? Denn anzunehmen, daſs
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waren, ihn bis zur zweiten wieder verlassen gehabt,
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/560>, abgerufen am 22.11.2024.
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