§. 9. Die mythische Erklärungsweise in ihrer Anwendung auf das N. T.
So war die mythische Auslegungsweise nicht allein in das alte Testament, sondern auch in das neue aufgenom- men, doch nicht ohne dass man diesen Schritt besonders zu rechtfertigen sich veranlasst gesehen hätte. Schon Gab- ler hatte an dem Paulus'schen Commentar das ausgesezt, dass er zu Weniges über den mythischen Gesichtspunkt ge- be, der bei gewissen N. T. lichen Erzählungen angenom- men werden müsse. In manchen von diesen Erzählungen nämlich finden sich nicht blos unrichtige Urtheile, wie sie auch von Augenzeugen gefällt werden können, so dass sich durch deren Berichtigung ein natürlicher Hergang gewin- nen liesse: sondern nicht selten finden sich auch falsche Thatsachen und unmögliche Erfolge angegeben, welche von keinem Augenzeugen so erzählt, sondern nur in der Über- lieferung haben fingirt werden können, also mythisch auf- gefasst werden müssen 1).
Die Hauptschwierigkeit, welche bei Übertragung des mythischen Gesichtspunktes aus dem A. T. in das neue zu beseitigen war, ist diese, dass man Mythen nur in der fa- belhaften Urzeit unsres Geschlechtes zu suchen pflegte, in welcher überhaupt noch keine Begebenheiten schriftlich verzeichnet wurden: wogegen zur Zeit Jesu das mythi- sche Zeitalter lange vorüber und namentlich die jüdische Nation längst eine schriftstellerische geworden war. Indess schon Schelling (in der angeführten Abhandlung) hatte wenigstens in einer Anmerkung eingeräumt, im weiteren Sinne könne auch diejenige Geschichte mythisch genannt werden, welche noch zu einer Zeit, da Alles längst schrift-
der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdts krit. Jour- nal 5. Bd. S. 235 ff.
1) Recens. von Paulus Commentar, im neuesten theol. Journal. 7, 4, 395 ff. (1801).
Einleitung. §. 9.
§. 9. Die mythische Erklärungsweise in ihrer Anwendung auf das N. T.
So war die mythische Auslegungsweise nicht allein in das alte Testament, sondern auch in das neue aufgenom- men, doch nicht ohne daſs man diesen Schritt besonders zu rechtfertigen sich veranlaſst gesehen hätte. Schon Gab- ler hatte an dem Paulus'schen Commentar das ausgesezt, daſs er zu Weniges über den mythischen Gesichtspunkt ge- be, der bei gewissen N. T. lichen Erzählungen angenom- men werden müsse. In manchen von diesen Erzählungen nämlich finden sich nicht blos unrichtige Urtheile, wie sie auch von Augenzeugen gefällt werden können, so daſs sich durch deren Berichtigung ein natürlicher Hergang gewin- nen lieſse: sondern nicht selten finden sich auch falsche Thatsachen und unmögliche Erfolge angegeben, welche von keinem Augenzeugen so erzählt, sondern nur in der Über- lieferung haben fingirt werden können, also mythisch auf- gefaſst werden müssen 1).
Die Hauptschwierigkeit, welche bei Übertragung des mythischen Gesichtspunktes aus dem A. T. in das neue zu beseitigen war, ist diese, daſs man Mythen nur in der fa- belhaften Urzeit unsres Geschlechtes zu suchen pflegte, in welcher überhaupt noch keine Begebenheiten schriftlich verzeichnet wurden: wogegen zur Zeit Jesu das mythi- sche Zeitalter lange vorüber und namentlich die jüdische Nation längst eine schriftstellerische geworden war. Indeſs schon Schelling (in der angeführten Abhandlung) hatte wenigstens in einer Anmerkung eingeräumt, im weiteren Sinne könne auch diejenige Geschichte mythisch genannt werden, welche noch zu einer Zeit, da Alles längst schrift-
der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdts krit. Jour- nal 5. Bd. S. 235 ff.
1) Recens. von Paulus Commentar, im neuesten theol. Journal. 7, 4, 395 ff. (1801).
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Einleitung. §. 9.
§. 9.
Die mythische Erklärungsweise in ihrer Anwendung auf das N. T.
So war die mythische Auslegungsweise nicht allein in
das alte Testament, sondern auch in das neue aufgenom-
men, doch nicht ohne daſs man diesen Schritt besonders
zu rechtfertigen sich veranlaſst gesehen hätte. Schon Gab-
ler hatte an dem Paulus'schen Commentar das ausgesezt,
daſs er zu Weniges über den mythischen Gesichtspunkt ge-
be, der bei gewissen N. T. lichen Erzählungen angenom-
men werden müsse. In manchen von diesen Erzählungen
nämlich finden sich nicht blos unrichtige Urtheile, wie sie
auch von Augenzeugen gefällt werden können, so daſs sich
durch deren Berichtigung ein natürlicher Hergang gewin-
nen lieſse: sondern nicht selten finden sich auch falsche
Thatsachen und unmögliche Erfolge angegeben, welche von
keinem Augenzeugen so erzählt, sondern nur in der Über-
lieferung haben fingirt werden können, also mythisch auf-
gefaſst werden müssen 1).
Die Hauptschwierigkeit, welche bei Übertragung des
mythischen Gesichtspunktes aus dem A. T. in das neue zu
beseitigen war, ist diese, daſs man Mythen nur in der fa-
belhaften Urzeit unsres Geschlechtes zu suchen pflegte, in
welcher überhaupt noch keine Begebenheiten schriftlich
verzeichnet wurden: wogegen zur Zeit Jesu das mythi-
sche Zeitalter lange vorüber und namentlich die jüdische
Nation längst eine schriftstellerische geworden war. Indeſs
schon Schelling (in der angeführten Abhandlung) hatte
wenigstens in einer Anmerkung eingeräumt, im weiteren
Sinne könne auch diejenige Geschichte mythisch genannt
werden, welche noch zu einer Zeit, da Alles längst schrift-
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1) Recens. von Paulus Commentar, im neuesten theol. Journal.
7, 4, 395 ff. (1801).
15) der Biograph Jesu arbeiten kann. In Bertholdts krit. Jour-
nal 5. Bd. S. 235 ff.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/62>, abgerufen am 21.11.2024.
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