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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 9.
über seine ersten Lebensumstände, längere Zeit nichts
Schriftliches, sondern nur mündliche Erzählungen gehabt
habe, welche leicht allmählig in's Wunderbare gemalt, mit
jüdischen Zeitideen versezt, und so zu historischen My-
then werden konnten. Über manches Andre hatte man
nach Gabler gar keine Tradition, man war also der eige-
nen Muthmassung überlassen, man machte um so mehr
Schlüsse, je weniger Geschichte man hatte, und diese hi-
storischen Conjecturen und Raisonnements im jüdisch-christ-
lichen Geschmacke kann man die philosophischen Mythen
der christlichen Urgeschichte nennen. Wenn auf diese
Weise, schliesst Gabler, der Begriff des Mythus bei meh-
reren Erzählungen des N. T.s Anwendung findet, warum
sollte man die Sache nicht beim rechten Namen nennen
dürfen, warum, -- im wissenschaftlichen Verkehr versteht
sich, -- einen Ausdruck vermeiden, der nur bei Befange-
nen oder Falschberichteten Anstoss erregen kann? -- Aus
dem Wesen des Christenthums selber suchte Horst die
Entstehung einer christlichen Mythologie zu erklären. Nach
ihm ist das Christenthum seiner ursprünglichen Natur nach
mystisch, d. h. nur in inneren Gefühlen und Ideen sich
bewegend; aber schon die ersten Stifter desselben, und
noch mehr die folgenden Zeiten, bezogen diese Ideen auf
bestimmte Objekte und Fakta, und sobald der Mysticismus
seine Gedanken und Empfindungen aus sich heraus und
auf äussere Objekte überträgt, ist er Mythologie 4).

Wie aber auf Seiten des A. T.s die mythische Auffas-
sung nur von denjenigen festgehalten werden konnte, wel-
che zugleich die Abfassung der A. T.lichen Geschichtsur-
kunden durch Augenzeugen und Zeitgenossen bezweifelten:
so auch auf Seiten des N. T.s. Nur mittelst der Annah-
me, dass durch die drei ersten Evangelien sich blos ein

4) Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin,
6ter Band. S. 454.

Einleitung. §. 9.
über seine ersten Lebensumstände, längere Zeit nichts
Schriftliches, sondern nur mündliche Erzählungen gehabt
habe, welche leicht allmählig in's Wunderbare gemalt, mit
jüdischen Zeitideen versezt, und so zu historischen My-
then werden konnten. Über manches Andre hatte man
nach Gabler gar keine Tradition, man war also der eige-
nen Muthmaſsung überlassen, man machte um so mehr
Schlüsse, je weniger Geschichte man hatte, und diese hi-
storischen Conjecturen und Raisonnements im jüdisch-christ-
lichen Geschmacke kann man die philosophischen Mythen
der christlichen Urgeschichte nennen. Wenn auf diese
Weise, schlieſst Gabler, der Begriff des Mythus bei meh-
reren Erzählungen des N. T.s Anwendung findet, warum
sollte man die Sache nicht beim rechten Namen nennen
dürfen, warum, — im wissenschaftlichen Verkehr versteht
sich, — einen Ausdruck vermeiden, der nur bei Befange-
nen oder Falschberichteten Anstoſs erregen kann? — Aus
dem Wesen des Christenthums selber suchte Horst die
Entstehung einer christlichen Mythologie zu erklären. Nach
ihm ist das Christenthum seiner ursprünglichen Natur nach
mystisch, d. h. nur in inneren Gefühlen und Ideen sich
bewegend; aber schon die ersten Stifter desselben, und
noch mehr die folgenden Zeiten, bezogen diese Ideen auf
bestimmte Objekte und Fakta, und sobald der Mysticismus
seine Gedanken und Empfindungen aus sich heraus und
auf äussere Objekte überträgt, ist er Mythologie 4).

Wie aber auf Seiten des A. T.s die mythische Auffas-
sung nur von denjenigen festgehalten werden konnte, wel-
che zugleich die Abfassung der A. T.lichen Geschichtsur-
kunden durch Augenzeugen und Zeitgenossen bezweifelten:
so auch auf Seiten des N. T.s. Nur mittelst der Annah-
me, daſs durch die drei ersten Evangelien sich blos ein

4) Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin,
6ter Band. S. 454.
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[40/0064] Einleitung. §. 9. über seine ersten Lebensumstände, längere Zeit nichts Schriftliches, sondern nur mündliche Erzählungen gehabt habe, welche leicht allmählig in's Wunderbare gemalt, mit jüdischen Zeitideen versezt, und so zu historischen My- then werden konnten. Über manches Andre hatte man nach Gabler gar keine Tradition, man war also der eige- nen Muthmaſsung überlassen, man machte um so mehr Schlüsse, je weniger Geschichte man hatte, und diese hi- storischen Conjecturen und Raisonnements im jüdisch-christ- lichen Geschmacke kann man die philosophischen Mythen der christlichen Urgeschichte nennen. Wenn auf diese Weise, schlieſst Gabler, der Begriff des Mythus bei meh- reren Erzählungen des N. T.s Anwendung findet, warum sollte man die Sache nicht beim rechten Namen nennen dürfen, warum, — im wissenschaftlichen Verkehr versteht sich, — einen Ausdruck vermeiden, der nur bei Befange- nen oder Falschberichteten Anstoſs erregen kann? — Aus dem Wesen des Christenthums selber suchte Horst die Entstehung einer christlichen Mythologie zu erklären. Nach ihm ist das Christenthum seiner ursprünglichen Natur nach mystisch, d. h. nur in inneren Gefühlen und Ideen sich bewegend; aber schon die ersten Stifter desselben, und noch mehr die folgenden Zeiten, bezogen diese Ideen auf bestimmte Objekte und Fakta, und sobald der Mysticismus seine Gedanken und Empfindungen aus sich heraus und auf äussere Objekte überträgt, ist er Mythologie 4). Wie aber auf Seiten des A. T.s die mythische Auffas- sung nur von denjenigen festgehalten werden konnte, wel- che zugleich die Abfassung der A. T.lichen Geschichtsur- kunden durch Augenzeugen und Zeitgenossen bezweifelten: so auch auf Seiten des N. T.s. Nur mittelst der Annah- me, daſs durch die drei ersten Evangelien sich blos ein 4) Ideen über Mythologie u. s. w. in Henke's neuem Magazin, 6ter Band. S. 454.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/64>, abgerufen am 21.11.2024.