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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Sechstes Kapitel. §. 75.
Parabel aber Luc. 15, 3 ff. als Erwiederung auf den An-
stoss der Pharisäer an seiner Zöllnerfreundschaft besser
zu stehen, und von Matthäus nur desswegen hiehergestellt
zu sein, weil ihm bei den Reden Jesu von den mikrois
leicht auch die von den apololosi, beides Beweise seiner
tapeinotes und philanthropia, einfallen konnten.

Zwischen der Moral der bezeichneten Parabel (V. 14.)
und den folgenden Regeln für das Verhalten der Christen
bei Beleidigungen durch Andere (V. 15 ff.) liegt wiederum
nur ein Verbalzusammenhang durch die Worte apoletai
und ekerdesas zu Tage, indem der Ausspruch, Gott wolle
nicht, dass dieser Geringsten einer verloren gehe, an den
andern erinnern konnte, dass man also die Brüder durch
Versöhnlichkeit zu gewinnen suchen müsse. Wegen der
Anweisung (V. 17.), den Beleidiger in gewissen Fällen
vor die ekklesia zu bringen, wird diese Stelle gewöhnlich
unter den Beweisen, dass Jesus eine Kirche habe stiften
wollen, aufgeführt. Allein Jesus spricht hier von einer
bereits bestehenden Institution, also von der jüdischen Syn-
agoge, wofür auch die auffallende Analogie dieser An-
weisungen mit jüdischen Vorschriften spricht 4). Der Re-
ferent freilich scheint an die zu gründende neue Gemeinde
gedacht zu haben, wenn er Jesum sofort die schon frü-
her dem Petrus gegebene Vollmacht zu binden und zu
lösen, also eine neue messianische Religionsverfassung zu
begründen, sämmtlichen Jüngern ertheilen lässt, womit
sodann die Aussprüche von der Erhörung des einmüthigen
Gebets und von der Gegenwart Jesu bei zwei oder drei in
seinem Namen Versammelten zusammenhängen, welche
gleichfalls nicht ohne Analogie in jüdischen Schriften sind 5).

Die nächste Rede, die uns begegnet, Matth. 19, 3--12.
Marc. 10, 2--12. ist, obzwar nach den Evangelisten auf

4) s. Wetstein, Lightfoot, Schöttgen z. d. St.
5) Berachoth, f. 6, 1. bei Schöttgen 1, S. 152 f.

Sechstes Kapitel. §. 75.
Parabel aber Luc. 15, 3 ff. als Erwiederung auf den An-
stoſs der Pharisäer an seiner Zöllnerfreundschaft besser
zu stehen, und von Matthäus nur deſswegen hiehergestellt
zu sein, weil ihm bei den Reden Jesu von den μικροῖς
leicht auch die von den ἀπολωλόσι, beides Beweise seiner
ταπεινότης und φιλανϑρωπία, einfallen konnten.

Zwischen der Moral der bezeichneten Parabel (V. 14.)
und den folgenden Regeln für das Verhalten der Christen
bei Beleidigungen durch Andere (V. 15 ff.) liegt wiederum
nur ein Verbalzusammenhang durch die Worte ἀπόληται
und ἐκέρδησας zu Tage, indem der Ausspruch, Gott wolle
nicht, daſs dieser Geringsten einer verloren gehe, an den
andern erinnern konnte, daſs man also die Brüder durch
Versöhnlichkeit zu gewinnen suchen müsse. Wegen der
Anweisung (V. 17.), den Beleidiger in gewissen Fällen
vor die ἐκκλησία zu bringen, wird diese Stelle gewöhnlich
unter den Beweisen, daſs Jesus eine Kirche habe stiften
wollen, aufgeführt. Allein Jesus spricht hier von einer
bereits bestehenden Institution, also von der jüdischen Syn-
agoge, wofür auch die auffallende Analogie dieser An-
weisungen mit jüdischen Vorschriften spricht 4). Der Re-
ferent freilich scheint an die zu gründende neue Gemeinde
gedacht zu haben, wenn er Jesum sofort die schon frü-
her dem Petrus gegebene Vollmacht zu binden und zu
lösen, also eine neue messianische Religionsverfassung zu
begründen, sämmtlichen Jüngern ertheilen läſst, womit
sodann die Aussprüche von der Erhörung des einmüthigen
Gebets und von der Gegenwart Jesu bei zwei oder drei in
seinem Namen Versammelten zusammenhängen, welche
gleichfalls nicht ohne Analogie in jüdischen Schriften sind 5).

Die nächste Rede, die uns begegnet, Matth. 19, 3—12.
Marc. 10, 2—12. ist, obzwar nach den Evangelisten auf

4) s. Wetstein, Lightfoot, Schöttgen z. d. St.
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[617/0641] Sechstes Kapitel. §. 75. Parabel aber Luc. 15, 3 ff. als Erwiederung auf den An- stoſs der Pharisäer an seiner Zöllnerfreundschaft besser zu stehen, und von Matthäus nur deſswegen hiehergestellt zu sein, weil ihm bei den Reden Jesu von den μικροῖς leicht auch die von den ἀπολωλόσι, beides Beweise seiner ταπεινότης und φιλανϑρωπία, einfallen konnten. Zwischen der Moral der bezeichneten Parabel (V. 14.) und den folgenden Regeln für das Verhalten der Christen bei Beleidigungen durch Andere (V. 15 ff.) liegt wiederum nur ein Verbalzusammenhang durch die Worte ἀπόληται und ἐκέρδησας zu Tage, indem der Ausspruch, Gott wolle nicht, daſs dieser Geringsten einer verloren gehe, an den andern erinnern konnte, daſs man also die Brüder durch Versöhnlichkeit zu gewinnen suchen müsse. Wegen der Anweisung (V. 17.), den Beleidiger in gewissen Fällen vor die ἐκκλησία zu bringen, wird diese Stelle gewöhnlich unter den Beweisen, daſs Jesus eine Kirche habe stiften wollen, aufgeführt. Allein Jesus spricht hier von einer bereits bestehenden Institution, also von der jüdischen Syn- agoge, wofür auch die auffallende Analogie dieser An- weisungen mit jüdischen Vorschriften spricht 4). Der Re- ferent freilich scheint an die zu gründende neue Gemeinde gedacht zu haben, wenn er Jesum sofort die schon frü- her dem Petrus gegebene Vollmacht zu binden und zu lösen, also eine neue messianische Religionsverfassung zu begründen, sämmtlichen Jüngern ertheilen läſst, womit sodann die Aussprüche von der Erhörung des einmüthigen Gebets und von der Gegenwart Jesu bei zwei oder drei in seinem Namen Versammelten zusammenhängen, welche gleichfalls nicht ohne Analogie in jüdischen Schriften sind 5). Die nächste Rede, die uns begegnet, Matth. 19, 3—12. Marc. 10, 2—12. ist, obzwar nach den Evangelisten auf 4) s. Wetstein, Lightfoot, Schöttgen z. d. St. 5) Berachoth, f. 6, 1. bei Schöttgen 1, S. 152 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/641>, abgerufen am 23.11.2024.