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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Siebentes Kapitel. §. 76.
ersten Anhangs Jesu auf das gemeine Volk mehr Anstoss
erregen musste, als in den Kreisen, in welchen die synop-
tische Tradition sich bildete. Hiemit hat sich der Vor-
wurf, welchen die neueste Kritik dem ersten Evangelium
über sein Schweigen von Nikodemus machte, gegen das
vierte und seine Erzählungen von diesem Manne umge-
wendet.

Daraus soll jedoch gegen das folgende Gespräch, wel-
ches der eigentliche Gegenstand unsrer Betrachtung ist,
noch kein Präjudiz hergenommen werden. Es könnte
gleichwohl in der Hauptsache ächt sein: Jesus könnte es
mit einem seiner Anhänger aus dem Volke geführt, und
unser Evangelist nur die Veränderung mit demselben vor-
genommen haben, dass er die Rolle des Mitsprechenden
einem Vornehmen übertrug. Und so wollen wir auch
weder mit dem Verfasser der Probabilien gleich an der
Anrede des Nikodemus Anstoss nehmen, noch mit demsel-
ben zwischen dieser Anrede und der Antwort Jesu den
Zusammenhang vermissen 5). Dass Jesus sofort als Be-
dingung des Eintritts in das Himmelreich das gennethenai
anothen verlangt, ist von dem aus den Synoptikern be-
kannten metanoeite; eggike gar e basileia ton ouranon nicht
wesentlich verschieden. Das Bild der neuen Geburt, der

5) Probab. S. 44. Darin aber behält Bretschneider Recht, dass
er gegen die Kuinöl'sche Weise, den Zusammenhang nament-
lich der johanneischen Reden durch Hineindenken angeblich
weggelassener Sätze und Zwischenreden zu vermitteln, sich
erklärt, wie denn auch Lücke (1, S. 446) gesteht, wenn
gleich zwischen zwei von Johannes unmittelbar verbundenen
Aussprüchen Jesu etwas fehlen sollte, so müsse doch der
Evangelist sich zwischen beiden einen unmittelbaren Zusam-
menhang gedacht haben, welcher vom Exegeten zu ermitteln
sei. Wirklich ist in den Reden des vierten Evangeliums der
Zusammenhang, wenn er auch bisweilen sehr versteckt ist,
doch niemals ganz zu vermissen.

Siebentes Kapitel. §. 76.
ersten Anhangs Jesu auf das gemeine Volk mehr Anstoſs
erregen muſste, als in den Kreisen, in welchen die synop-
tische Tradition sich bildete. Hiemit hat sich der Vor-
wurf, welchen die neueste Kritik dem ersten Evangelium
über sein Schweigen von Nikodemus machte, gegen das
vierte und seine Erzählungen von diesem Manne umge-
wendet.

Daraus soll jedoch gegen das folgende Gespräch, wel-
ches der eigentliche Gegenstand unsrer Betrachtung ist,
noch kein Präjudiz hergenommen werden. Es könnte
gleichwohl in der Hauptsache ächt sein: Jesus könnte es
mit einem seiner Anhänger aus dem Volke geführt, und
unser Evangelist nur die Veränderung mit demselben vor-
genommen haben, daſs er die Rolle des Mitsprechenden
einem Vornehmen übertrug. Und so wollen wir auch
weder mit dem Verfasser der Probabilien gleich an der
Anrede des Nikodemus Anstoſs nehmen, noch mit demsel-
ben zwischen dieser Anrede und der Antwort Jesu den
Zusammenhang vermissen 5). Daſs Jesus sofort als Be-
dingung des Eintritts in das Himmelreich das γεννηϑῆναι
ἄνωϑεν verlangt, ist von dem aus den Synoptikern be-
kannten μετανοεῖτε· ἤγγικε γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν nicht
wesentlich verschieden. Das Bild der neuen Geburt, der

5) Probab. S. 44. Darin aber behält Bretschneider Recht, dass
er gegen die Kuinöl'sche Weise, den Zusammenhang nament-
lich der johanneischen Reden durch Hineindenken angeblich
weggelassener Sätze und Zwischenreden zu vermitteln, sich
erklärt, wie denn auch Lücke (1, S. 446) gesteht, wenn
gleich zwischen zwei von Johannes unmittelbar verbundenen
Aussprüchen Jesu etwas fehlen sollte, so müsse doch der
Evangelist sich zwischen beiden einen unmittelbaren Zusam-
menhang gedacht haben, welcher vom Exegeten zu ermitteln
sei. Wirklich ist in den Reden des vierten Evangeliums der
Zusammenhang, wenn er auch bisweilen sehr versteckt ist,
doch niemals ganz zu vermissen.
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[635/0659] Siebentes Kapitel. §. 76. ersten Anhangs Jesu auf das gemeine Volk mehr Anstoſs erregen muſste, als in den Kreisen, in welchen die synop- tische Tradition sich bildete. Hiemit hat sich der Vor- wurf, welchen die neueste Kritik dem ersten Evangelium über sein Schweigen von Nikodemus machte, gegen das vierte und seine Erzählungen von diesem Manne umge- wendet. Daraus soll jedoch gegen das folgende Gespräch, wel- ches der eigentliche Gegenstand unsrer Betrachtung ist, noch kein Präjudiz hergenommen werden. Es könnte gleichwohl in der Hauptsache ächt sein: Jesus könnte es mit einem seiner Anhänger aus dem Volke geführt, und unser Evangelist nur die Veränderung mit demselben vor- genommen haben, daſs er die Rolle des Mitsprechenden einem Vornehmen übertrug. Und so wollen wir auch weder mit dem Verfasser der Probabilien gleich an der Anrede des Nikodemus Anstoſs nehmen, noch mit demsel- ben zwischen dieser Anrede und der Antwort Jesu den Zusammenhang vermissen 5). Daſs Jesus sofort als Be- dingung des Eintritts in das Himmelreich das γεννηϑῆναι ἄνωϑεν verlangt, ist von dem aus den Synoptikern be- kannten μετανοεῖτε· ἤγγικε γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν nicht wesentlich verschieden. Das Bild der neuen Geburt, der 5) Probab. S. 44. Darin aber behält Bretschneider Recht, dass er gegen die Kuinöl'sche Weise, den Zusammenhang nament- lich der johanneischen Reden durch Hineindenken angeblich weggelassener Sätze und Zwischenreden zu vermitteln, sich erklärt, wie denn auch Lücke (1, S. 446) gesteht, wenn gleich zwischen zwei von Johannes unmittelbar verbundenen Aussprüchen Jesu etwas fehlen sollte, so müsse doch der Evangelist sich zwischen beiden einen unmittelbaren Zusam- menhang gedacht haben, welcher vom Exegeten zu ermitteln sei. Wirklich ist in den Reden des vierten Evangeliums der Zusammenhang, wenn er auch bisweilen sehr versteckt ist, doch niemals ganz zu vermissen.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 635. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/659>, abgerufen am 21.11.2024.