Diese Notiz des Markus ist den Auslegern sehr will- kommen, um die Härte, welche in der Entgegnung Jesu auf die Anmeldung seiner nächsten Verwandten zu liegen scheint, aus der verkehrten Absicht ihres Besuchs zu er- klären und zu rechtfertigen. Allein auch abgesehen da- von, dass bei der gewöhnlichen historischen Auffassung der Kindheitsgeschichte Jesu sich schwer erklärt, wie seine Mutter nach solchen Ereignissen später so weit an ihrem Sohne irre werden konnte, so fragt es sich doch sehr, ob wir jene Notiz des Markus annehmen dürfen? Bedenkt man, wie sie theils neben der augenscheinlichen Übertreibung steht, dass Jesus und die Seinigen des Volks- zudrangs wegen nicht einmal zum Essen haben kommen können, theils in ihrer Abgebrochenheit sich selbst nicht minder wunderlich ausnimmt: so wird man kaum umhin- können, dem Urtheil Schleiermacher's beizutreten, dass in diesem Zusaz kein Aufschluss über das damalige Ver- hältniss Jesu zu seiner Familie zu suchen sei, derselbe vielmehr zu jenen Übertreibungen gehöre, welche Mar- kus sowohl in den Eingängen einzelner Begebenheiten, als in den allgemeinen Darstellungen so gerne anbringe 2). Er wollte die abweisende Antwort Jesu auf die Anmel- dung seiner Verwandten begreiflich machen, glaubte dess- wegen ihrem Besuche eine für Jesum unerwünschte Ab- sicht unterlegen zu müssen, und weil er nun von den Pharisäern wusste, dass sie ihn unter Einfluss des Beelze- bul gestellt haben, so schrieb er auch jenen eine ähnli- che Ansicht zu.
Legen wir diese Notiz des Markus bei Seite, so bie- tet zwar die Vergleichung der sehr ähnlichlautenden drei Berichte an sich keine Ausbeute 3), wohl aber muss uns
2) Über den Lukas, S. 121.
3) Wenn Schneckenburger (über den Ursprung, S. 54.) in dem eipe tis und dem ekteinas ten kheira bei Matthäus gegen-
Achtes Kapitel. §. 82.
Diese Notiz des Markus ist den Auslegern sehr will- kommen, um die Härte, welche in der Entgegnung Jesu auf die Anmeldung seiner nächsten Verwandten zu liegen scheint, aus der verkehrten Absicht ihres Besuchs zu er- klären und zu rechtfertigen. Allein auch abgesehen da- von, daſs bei der gewöhnlichen historischen Auffassung der Kindheitsgeschichte Jesu sich schwer erklärt, wie seine Mutter nach solchen Ereignissen später so weit an ihrem Sohne irre werden konnte, so fragt es sich doch sehr, ob wir jene Notiz des Markus annehmen dürfen? Bedenkt man, wie sie theils neben der augenscheinlichen Übertreibung steht, daſs Jesus und die Seinigen des Volks- zudrangs wegen nicht einmal zum Essen haben kommen können, theils in ihrer Abgebrochenheit sich selbst nicht minder wunderlich ausnimmt: so wird man kaum umhin- können, dem Urtheil Schleiermacher's beizutreten, daſs in diesem Zusaz kein Aufschluſs über das damalige Ver- hältniſs Jesu zu seiner Familie zu suchen sei, derselbe vielmehr zu jenen Übertreibungen gehöre, welche Mar- kus sowohl in den Eingängen einzelner Begebenheiten, als in den allgemeinen Darstellungen so gerne anbringe 2). Er wollte die abweisende Antwort Jesu auf die Anmel- dung seiner Verwandten begreiflich machen, glaubte deſs- wegen ihrem Besuche eine für Jesum unerwünschte Ab- sicht unterlegen zu müssen, und weil er nun von den Pharisäern wuſste, daſs sie ihn unter Einfluſs des Beelze- bul gestellt haben, so schrieb er auch jenen eine ähnli- che Ansicht zu.
Legen wir diese Notiz des Markus bei Seite, so bie- tet zwar die Vergleichung der sehr ähnlichlautenden drei Berichte an sich keine Ausbeute 3), wohl aber muſs uns
2) Über den Lukas, S. 121.
3) Wenn Schneckenburger (über den Ursprung, S. 54.) in dem εἶπέ τις und dem ἐκτείνας τὴν χεῖρα bei Matthäus gegen-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0717"n="693"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Achtes Kapitel</hi>. §. 82.</fw><lb/><p>Diese Notiz des Markus ist den Auslegern sehr will-<lb/>
kommen, um die Härte, welche in der Entgegnung Jesu<lb/>
auf die Anmeldung seiner nächsten Verwandten zu liegen<lb/>
scheint, aus der verkehrten Absicht ihres Besuchs zu er-<lb/>
klären und zu rechtfertigen. Allein auch abgesehen da-<lb/>
von, daſs bei der gewöhnlichen historischen Auffassung<lb/>
der Kindheitsgeschichte Jesu sich schwer erklärt, wie<lb/>
seine Mutter nach solchen Ereignissen später so weit an<lb/>
ihrem Sohne irre werden konnte, so fragt es sich doch<lb/>
sehr, ob wir jene Notiz des Markus annehmen dürfen?<lb/>
Bedenkt man, wie sie theils neben der augenscheinlichen<lb/>
Übertreibung steht, daſs Jesus und die Seinigen des Volks-<lb/>
zudrangs wegen nicht einmal zum Essen haben kommen<lb/>
können, theils in ihrer Abgebrochenheit sich selbst nicht<lb/>
minder wunderlich ausnimmt: so wird man kaum umhin-<lb/>
können, dem Urtheil <hirendition="#k">Schleiermacher</hi>'s beizutreten, daſs<lb/>
in diesem Zusaz kein Aufschluſs über das damalige Ver-<lb/>
hältniſs Jesu zu seiner Familie zu suchen sei, derselbe<lb/>
vielmehr zu jenen Übertreibungen gehöre, welche Mar-<lb/>
kus sowohl in den Eingängen einzelner Begebenheiten,<lb/>
als in den allgemeinen Darstellungen so gerne anbringe <noteplace="foot"n="2)">Über den Lukas, S. 121.</note>.<lb/>
Er wollte die abweisende Antwort Jesu auf die Anmel-<lb/>
dung seiner Verwandten begreiflich machen, glaubte deſs-<lb/>
wegen ihrem Besuche eine für Jesum unerwünschte Ab-<lb/>
sicht unterlegen zu müssen, und weil er nun von den<lb/>
Pharisäern wuſste, daſs sie ihn unter Einfluſs des Beelze-<lb/>
bul gestellt haben, so schrieb er auch jenen eine ähnli-<lb/>
che Ansicht zu.</p><lb/><p>Legen wir diese Notiz des Markus bei Seite, so bie-<lb/>
tet zwar die Vergleichung der sehr ähnlichlautenden drei<lb/>
Berichte an sich keine Ausbeute <notexml:id="seg2pn_24_1"next="#seg2pn_24_2"place="foot"n="3)">Wenn <hirendition="#k">Schneckenburger</hi> (über den Ursprung, S. 54.) in dem<lb/><foreignxml:lang="ell">εἶπέτις</foreign> und dem <foreignxml:lang="ell">ἐκτείναςτὴνχεῖρα</foreign> bei Matthäus gegen-</note>, wohl aber muſs uns<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[693/0717]
Achtes Kapitel. §. 82.
Diese Notiz des Markus ist den Auslegern sehr will-
kommen, um die Härte, welche in der Entgegnung Jesu
auf die Anmeldung seiner nächsten Verwandten zu liegen
scheint, aus der verkehrten Absicht ihres Besuchs zu er-
klären und zu rechtfertigen. Allein auch abgesehen da-
von, daſs bei der gewöhnlichen historischen Auffassung
der Kindheitsgeschichte Jesu sich schwer erklärt, wie
seine Mutter nach solchen Ereignissen später so weit an
ihrem Sohne irre werden konnte, so fragt es sich doch
sehr, ob wir jene Notiz des Markus annehmen dürfen?
Bedenkt man, wie sie theils neben der augenscheinlichen
Übertreibung steht, daſs Jesus und die Seinigen des Volks-
zudrangs wegen nicht einmal zum Essen haben kommen
können, theils in ihrer Abgebrochenheit sich selbst nicht
minder wunderlich ausnimmt: so wird man kaum umhin-
können, dem Urtheil Schleiermacher's beizutreten, daſs
in diesem Zusaz kein Aufschluſs über das damalige Ver-
hältniſs Jesu zu seiner Familie zu suchen sei, derselbe
vielmehr zu jenen Übertreibungen gehöre, welche Mar-
kus sowohl in den Eingängen einzelner Begebenheiten,
als in den allgemeinen Darstellungen so gerne anbringe 2).
Er wollte die abweisende Antwort Jesu auf die Anmel-
dung seiner Verwandten begreiflich machen, glaubte deſs-
wegen ihrem Besuche eine für Jesum unerwünschte Ab-
sicht unterlegen zu müssen, und weil er nun von den
Pharisäern wuſste, daſs sie ihn unter Einfluſs des Beelze-
bul gestellt haben, so schrieb er auch jenen eine ähnli-
che Ansicht zu.
Legen wir diese Notiz des Markus bei Seite, so bie-
tet zwar die Vergleichung der sehr ähnlichlautenden drei
Berichte an sich keine Ausbeute 3), wohl aber muſs uns
2) Über den Lukas, S. 121.
3) Wenn Schneckenburger (über den Ursprung, S. 54.) in dem
εἶπέ τις und dem ἐκτείνας τὴν χεῖρα bei Matthäus gegen-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 693. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/717>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.