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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Achtes Kapitel. §. 85.
die Zeit, die lezte Woche des Lebens Jesu; hauptsächlich
aber ist Rede und Gegemede auf beiden Seiten nahezu
dieselbe, und bei diesen Ähnlichkeiten wird man über die
Differenzen theils durch den Drang der Unwahrscheinlich-
keit eines wiederholten Vorfalls dieser Art, theils durch
die Wahrscheinlichkeit hinweggehoben, dass bei der tra-
ditionellen Fortpflanzung der Anekdote dergleichen Ab-
weichungen sich eingeschlichen haben mögen. Hat man
aber auf dieser Seite in Betracht der Ähnlichkeiten uner-
achtet der Differenzen im Bericht die Identität des Vor-
falls zugegeben: so können auch auf der andern Seite die
der Erzählung des Lukas eigenthümlichen Abweichungen
nicht mehr hindern, sie mit der der drei übrigen Evange-
listen für identisch zu erklären, sobald sich nur einige
erhebliche Ähnlichkeiten zwischen beiden hervorstellen.
Und diese sind wirklich vorhanden, indem Lukas bald
mit Matthäus und Markus gegen Johannes, bald mit die-
sem gegen jene auffallend zusammenstimmt. Dem Gastge-
ber giebt Lukas denselben Namen, wie die zwei ersten
Evangelisten dem Hauswirth, nämlich Simon, nur dass
ihn jener durch pharisaios, diese durch o lepros, nä-
her bezeichnen. Auch darin stimmt Lukas mit den übri-
gen Synoptikern gegen Johannes überein, dass nach ihrer
gemeinsamen Darstellung die salbende Frau eine nicht
zum Hause gehörige Ungenannte ist, ferner darin, dass
sie dieselbe mit einem alabasron murou auftreten lassen,
während Johannes nur von einer litra murou, ohne An-
gabe des Gefässes, spricht. Mit Johannes hingegen stimmt
Lukas auf merkwürdige Weise in der Art der Salbung
gegen die beiden andern Evangelisten zusammen. Wäh-
rend nämlich diesen zufolge die Salbe auf das Haupt
Jesu ausgegossen wird, salbt nach Lukas die Sünderin,
wie nach Johannes die Maria, Jesu vielmehr die Füsse,
und selbst der auffallende Zug findet sich bei beiden fats
mit den gleichen Worten angegeben, dass sie mit ihren

Achtes Kapitel. §. 85.
die Zeit, die lezte Woche des Lebens Jesu; hauptsächlich
aber ist Rede und Gegemede auf beiden Seiten nahezu
dieselbe, und bei diesen Ähnlichkeiten wird man über die
Differenzen theils durch den Drang der Unwahrscheinlich-
keit eines wiederholten Vorfalls dieser Art, theils durch
die Wahrscheinlichkeit hinweggehoben, daſs bei der tra-
ditionellen Fortpflanzung der Anekdote dergleichen Ab-
weichungen sich eingeschlichen haben mögen. Hat man
aber auf dieser Seite in Betracht der Ähnlichkeiten uner-
achtet der Differenzen im Bericht die Identität des Vor-
falls zugegeben: so können auch auf der andern Seite die
der Erzählung des Lukas eigenthümlichen Abweichungen
nicht mehr hindern, sie mit der der drei übrigen Evange-
listen für identisch zu erklären, sobald sich nur einige
erhebliche Ähnlichkeiten zwischen beiden hervorstellen.
Und diese sind wirklich vorhanden, indem Lukas bald
mit Matthäus und Markus gegen Johannes, bald mit die-
sem gegen jene auffallend zusammenstimmt. Dem Gastge-
ber giebt Lukas denselben Namen, wie die zwei ersten
Evangelisten dem Hauswirth, nämlich Simon, nur daſs
ihn jener durch φαρισαῖος, diese durch ὁ λεπρὸς, nä-
her bezeichnen. Auch darin stimmt Lukas mit den übri-
gen Synoptikern gegen Johannes überein, daſs nach ihrer
gemeinsamen Darstellung die salbende Frau eine nicht
zum Hause gehörige Ungenannte ist, ferner darin, daſs
sie dieselbe mit einem ἀλάβαςρον μύροῦ auftreten lassen,
während Johannes nur von einer λίτρα μύροῦ, ohne An-
gabe des Gefäſses, spricht. Mit Johannes hingegen stimmt
Lukas auf merkwürdige Weise in der Art der Salbung
gegen die beiden andern Evangelisten zusammen. Wäh-
rend nämlich diesen zufolge die Salbe auf das Haupt
Jesu ausgegossen wird, salbt nach Lukas die Sünderin,
wie nach Johannes die Maria, Jesu vielmehr die Füſse,
und selbst der auffallende Zug findet sich bei beiden fats
mit den gleichen Worten angegeben, daſs sie mit ihren

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[713/0737] Achtes Kapitel. §. 85. die Zeit, die lezte Woche des Lebens Jesu; hauptsächlich aber ist Rede und Gegemede auf beiden Seiten nahezu dieselbe, und bei diesen Ähnlichkeiten wird man über die Differenzen theils durch den Drang der Unwahrscheinlich- keit eines wiederholten Vorfalls dieser Art, theils durch die Wahrscheinlichkeit hinweggehoben, daſs bei der tra- ditionellen Fortpflanzung der Anekdote dergleichen Ab- weichungen sich eingeschlichen haben mögen. Hat man aber auf dieser Seite in Betracht der Ähnlichkeiten uner- achtet der Differenzen im Bericht die Identität des Vor- falls zugegeben: so können auch auf der andern Seite die der Erzählung des Lukas eigenthümlichen Abweichungen nicht mehr hindern, sie mit der der drei übrigen Evange- listen für identisch zu erklären, sobald sich nur einige erhebliche Ähnlichkeiten zwischen beiden hervorstellen. Und diese sind wirklich vorhanden, indem Lukas bald mit Matthäus und Markus gegen Johannes, bald mit die- sem gegen jene auffallend zusammenstimmt. Dem Gastge- ber giebt Lukas denselben Namen, wie die zwei ersten Evangelisten dem Hauswirth, nämlich Simon, nur daſs ihn jener durch φαρισαῖος, diese durch ὁ λεπρὸς, nä- her bezeichnen. Auch darin stimmt Lukas mit den übri- gen Synoptikern gegen Johannes überein, daſs nach ihrer gemeinsamen Darstellung die salbende Frau eine nicht zum Hause gehörige Ungenannte ist, ferner darin, daſs sie dieselbe mit einem ἀλάβαςρον μύροῦ auftreten lassen, während Johannes nur von einer λίτρα μύροῦ, ohne An- gabe des Gefäſses, spricht. Mit Johannes hingegen stimmt Lukas auf merkwürdige Weise in der Art der Salbung gegen die beiden andern Evangelisten zusammen. Wäh- rend nämlich diesen zufolge die Salbe auf das Haupt Jesu ausgegossen wird, salbt nach Lukas die Sünderin, wie nach Johannes die Maria, Jesu vielmehr die Füſse, und selbst der auffallende Zug findet sich bei beiden fats mit den gleichen Worten angegeben, daſs sie mit ihren

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 713. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/737>, abgerufen am 25.11.2024.