Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Achtes Kapitel. §. 85. eine Seite des Vorgangs nämlich sei das Murren der Jün-ger und namentlich des Judas gewesen, und diese Seite habe Matthäus aufgefasst; die andre Seite, die Verhand- lung Jesu mit dem pharisäischen Wirthe, stelle Lukas dar, und Johannes berichtige beide Darstellungen. Was hier am entschiedensten einer Vereinigung des Lukas mit den übrigen widerstrebt, seine Bezeichnung der Frau als amar- tolos, lässt Schleiermacher als eine falsche Folgerung des Referenten aus der Anrede Jesu an die Maria: apheontai soi ai amartiai, fallen. Diess nämlich habe Jesus mit Be- zug auf eine uns unbekannte Verschuldung, wie sie auch dem Reinsten begegne, zu Maria sagen können, ohne sie vor den Anwesenden, die sie ja hinlänglich gekannt haben, zu compromittiren, und nur der Referent habe daraus und aus den weiteren Reden Jesu irrig geschlossen, es habe sich hier von einer Sünderin im gemeinen Sinne des Wor- tes gehandelt, wesswegen er dann auch die Gedanken des Wirthes V. 39. unrichtig ergänzt habe 20). Allein nicht blos von amartiais schlechtweg, sondern von pollais amar- tiais spricht Jesus in Bezug auf die Frau, und wenn auch diess ein unrichtiger Zusaz des Referenten sein soll, sofern es auf die Bethanische Maria nicht passt, so hat er die ganze Rede Jesu, von V. 40--48., welche sich um den Gegensaz von polu und oligon aphienai und agapan dreht, entweder verfälscht, oder falsch gestellt, und es ist auf dieser Seite besonders vergeblich, zwischen den abwei- chenden Berichten Frieden stiften zu wollen. Sind demnach die vier Erzählungen nur unter der 20) Über den Lukas, S. 111 ff.
Achtes Kapitel. §. 85. eine Seite des Vorgangs nämlich sei das Murren der Jün-ger und namentlich des Judas gewesen, und diese Seite habe Matthäus aufgefaſst; die andre Seite, die Verhand- lung Jesu mit dem pharisäischen Wirthe, stelle Lukas dar, und Johannes berichtige beide Darstellungen. Was hier am entschiedensten einer Vereinigung des Lukas mit den übrigen widerstrebt, seine Bezeichnung der Frau als ἁμαρ- τωλος, läſst Schleiermacher als eine falsche Folgerung des Referenten aus der Anrede Jesu an die Maria: ἀφέωνταί σοι αἱ ἁμαρτίαι, fallen. Dieſs nämlich habe Jesus mit Be- zug auf eine uns unbekannte Verschuldung, wie sie auch dem Reinsten begegne, zu Maria sagen können, ohne sie vor den Anwesenden, die sie ja hinlänglich gekannt haben, zu compromittiren, und nur der Referent habe daraus und aus den weiteren Reden Jesu irrig geschlossen, es habe sich hier von einer Sünderin im gemeinen Sinne des Wor- tes gehandelt, weſswegen er dann auch die Gedanken des Wirthes V. 39. unrichtig ergänzt habe 20). Allein nicht blos von ἁμαρτίαις schlechtweg, sondern von πολλαῖς ἁμαρ- τίαις spricht Jesus in Bezug auf die Frau, und wenn auch dieſs ein unrichtiger Zusaz des Referenten sein soll, sofern es auf die Bethanische Maria nicht paſst, so hat er die ganze Rede Jesu, von V. 40—48., welche sich um den Gegensaz von πολὺ und ὀλίγον ἀφιέναι und ἀγαπᾷν dreht, entweder verfälscht, oder falsch gestellt, und es ist auf dieser Seite besonders vergeblich, zwischen den abwei- chenden Berichten Frieden stiften zu wollen. Sind demnach die vier Erzählungen nur unter der 20) Über den Lukas, S. 111 ff.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0743" n="719"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Achtes Kapitel</hi>. §. 85.</fw><lb/> eine Seite des Vorgangs nämlich sei das Murren der Jün-<lb/> ger und namentlich des Judas gewesen, und diese Seite<lb/> habe Matthäus aufgefaſst; die andre Seite, die Verhand-<lb/> lung Jesu mit dem pharisäischen Wirthe, stelle Lukas dar,<lb/> und Johannes berichtige beide Darstellungen. Was hier am<lb/> entschiedensten einer Vereinigung des Lukas mit den<lb/> übrigen widerstrebt, seine Bezeichnung der Frau als ἁμαρ-<lb/> τωλος, läſst <hi rendition="#k">Schleiermacher</hi> als eine falsche Folgerung des<lb/> Referenten aus der Anrede Jesu an die Maria: ἀφέωνταί<lb/> σοι αἱ ἁμαρτίαι, fallen. Dieſs nämlich habe Jesus mit Be-<lb/> zug auf eine uns unbekannte Verschuldung, wie sie auch<lb/> dem Reinsten begegne, zu Maria sagen können, ohne sie<lb/> vor den Anwesenden, die sie ja hinlänglich gekannt haben,<lb/> zu compromittiren, und nur der Referent habe daraus und<lb/> aus den weiteren Reden Jesu irrig geschlossen, es habe<lb/> sich hier von einer Sünderin im gemeinen Sinne des Wor-<lb/> tes gehandelt, weſswegen er dann auch die Gedanken des<lb/> Wirthes V. 39. unrichtig ergänzt habe <note place="foot" n="20)">Über den Lukas, S. 111 ff.</note>. Allein nicht<lb/> blos von <foreign xml:lang="ell">ἁμαρτίαις</foreign> schlechtweg, sondern von <foreign xml:lang="ell">πολλαῖς ἁμαρ-<lb/> τίαις</foreign> spricht Jesus in Bezug auf die Frau, und wenn auch<lb/> dieſs ein unrichtiger Zusaz des Referenten sein soll, sofern<lb/> es auf die Bethanische Maria nicht paſst, so hat er die<lb/> ganze Rede Jesu, von V. 40—48., welche sich um den<lb/> Gegensaz von <foreign xml:lang="ell">πολὺ</foreign> und <foreign xml:lang="ell">ὀλίγον ἀφιέναι</foreign> und <foreign xml:lang="ell">ἀγαπᾷν</foreign> dreht,<lb/> entweder verfälscht, oder falsch gestellt, und es ist auf<lb/> dieser Seite besonders vergeblich, zwischen den abwei-<lb/> chenden Berichten Frieden stiften zu wollen.</p><lb/> <p>Sind demnach die vier Erzählungen nur unter der<lb/> Voraussetzung zu vereinigen, daſs mehrere derselben be-<lb/> deutende traditionelle Umbildungen erfahren haben: so<lb/> fragt es sich jezt, welche von ihnen dem ursprünglichen<lb/> Faktum am nächsten stehe? Daſs hier die neuere Kritik<lb/> einstimmig für den Johannes entscheidet, kann uns nach<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [719/0743]
Achtes Kapitel. §. 85.
eine Seite des Vorgangs nämlich sei das Murren der Jün-
ger und namentlich des Judas gewesen, und diese Seite
habe Matthäus aufgefaſst; die andre Seite, die Verhand-
lung Jesu mit dem pharisäischen Wirthe, stelle Lukas dar,
und Johannes berichtige beide Darstellungen. Was hier am
entschiedensten einer Vereinigung des Lukas mit den
übrigen widerstrebt, seine Bezeichnung der Frau als ἁμαρ-
τωλος, läſst Schleiermacher als eine falsche Folgerung des
Referenten aus der Anrede Jesu an die Maria: ἀφέωνταί
σοι αἱ ἁμαρτίαι, fallen. Dieſs nämlich habe Jesus mit Be-
zug auf eine uns unbekannte Verschuldung, wie sie auch
dem Reinsten begegne, zu Maria sagen können, ohne sie
vor den Anwesenden, die sie ja hinlänglich gekannt haben,
zu compromittiren, und nur der Referent habe daraus und
aus den weiteren Reden Jesu irrig geschlossen, es habe
sich hier von einer Sünderin im gemeinen Sinne des Wor-
tes gehandelt, weſswegen er dann auch die Gedanken des
Wirthes V. 39. unrichtig ergänzt habe 20). Allein nicht
blos von ἁμαρτίαις schlechtweg, sondern von πολλαῖς ἁμαρ-
τίαις spricht Jesus in Bezug auf die Frau, und wenn auch
dieſs ein unrichtiger Zusaz des Referenten sein soll, sofern
es auf die Bethanische Maria nicht paſst, so hat er die
ganze Rede Jesu, von V. 40—48., welche sich um den
Gegensaz von πολὺ und ὀλίγον ἀφιέναι und ἀγαπᾷν dreht,
entweder verfälscht, oder falsch gestellt, und es ist auf
dieser Seite besonders vergeblich, zwischen den abwei-
chenden Berichten Frieden stiften zu wollen.
Sind demnach die vier Erzählungen nur unter der
Voraussetzung zu vereinigen, daſs mehrere derselben be-
deutende traditionelle Umbildungen erfahren haben: so
fragt es sich jezt, welche von ihnen dem ursprünglichen
Faktum am nächsten stehe? Daſs hier die neuere Kritik
einstimmig für den Johannes entscheidet, kann uns nach
20) Über den Lukas, S. 111 ff.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |