Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Achtes Kapitel. §. 86. kann, dass, wenn nur der völliger Reinheit sich Bewusstesollte richten und strafen können, alle bürgerliche Ord- nung sich auflösen würde. Sagenhaft und mysteriös muss auch das Schreiben Jesu auf die Erde erscheinen, wel- ches, wenn es auch die Glosse des Hieronymus: eorum videlicet, qui accusabant, et omnium mortalium peccata, nicht richtig erklärt, doch etwas Geheimnissvolleres, als blosse Abweisung der Ankläger zu enthalten scheint. Kaum denkbar endlich ist es, dass alle die gesetzeseifri- gen und Jesu abgeneigten Menschen, welche die Frau zu ihm geschleppt hatten, ein so zartes Gewissen gehabt haben sollten, um auf die Schärfung desselben durch Jesum hin sich sämmtlich unverrichteter Dinge zu ent- fernen, und das Weib ungekränkt zurückzulassen, son- dern diess scheint nur zur poetischen Ausschmückung der Scene in der Sage zu gehören. So unwahrscheinlich die- sen Bemerkungen zufolge werden muss, dass die Begeben- heit gerade so, wie sie hier erzählt wird, vorgefallen sei: so wenig beweist diess doch, wie Bretschneider mit Recht festhält 5), gegen die Ächtheit der Perikope, da die apo- stolische Abfassung des vierten Evangeliums, mithin die Unmöglichkeit, eine in sich widersprechende Erzählung als Bestandtheil desselben zu betrachten, vor Untersuchung eben aller seiner einzelnen Theile ohne unverantwortlichen Cirkel nicht vorausgesezt werden darf. Indess ist doch auf der andern Seite das Fehlen des Abschnitts in den ältesten Auktoritäten so bedenklich, dass eine Entschei- dung in der Sache nicht wohl gewagt werden kann. Sehr alt muss in jedem Falle die Erzählung von dem 5) Probab. S. 72 ff. 6) Euseb. H. E. 3, 39: ektetheitai de ([o] Pap[i]as) kai allen
Achtes Kapitel. §. 86. kann, daſs, wenn nur der völliger Reinheit sich Bewuſstesollte richten und strafen können, alle bürgerliche Ord- nung sich auflösen würde. Sagenhaft und mysteriös muſs auch das Schreiben Jesu auf die Erde erscheinen, wel- ches, wenn es auch die Glosse des Hieronymus: eorum videlicet, qui accusabant, et omnium mortalium peccata, nicht richtig erklärt, doch etwas Geheimniſsvolleres, als bloſse Abweisung der Ankläger zu enthalten scheint. Kaum denkbar endlich ist es, daſs alle die gesetzeseifri- gen und Jesu abgeneigten Menschen, welche die Frau zu ihm geschleppt hatten, ein so zartes Gewissen gehabt haben sollten, um auf die Schärfung desselben durch Jesum hin sich sämmtlich unverrichteter Dinge zu ent- fernen, und das Weib ungekränkt zurückzulassen, son- dern dieſs scheint nur zur poëtischen Ausschmückung der Scene in der Sage zu gehören. So unwahrscheinlich die- sen Bemerkungen zufolge werden muſs, daſs die Begeben- heit gerade so, wie sie hier erzählt wird, vorgefallen sei: so wenig beweist dieſs doch, wie Bretschneider mit Recht festhält 5), gegen die Ächtheit der Perikope, da die apo- stolische Abfassung des vierten Evangeliums, mithin die Unmöglichkeit, eine in sich widersprechende Erzählung als Bestandtheil desselben zu betrachten, vor Untersuchung eben aller seiner einzelnen Theile ohne unverantwortlichen Cirkel nicht vorausgesezt werden darf. Indeſs ist doch auf der andern Seite das Fehlen des Abschnitts in den ältesten Auktoritäten so bedenklich, daſs eine Entschei- dung in der Sache nicht wohl gewagt werden kann. Sehr alt muſs in jedem Falle die Erzählung von dem 5) Probab. S. 72 ff. 6) Euseb. H. E. 3, 39: ἐκτέϑειται δὲ ([ὁ] Παπ[ί]ας) καὶ ἄλλην
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Achtes Kapitel. §. 86.
kann, daſs, wenn nur der völliger Reinheit sich Bewuſste
sollte richten und strafen können, alle bürgerliche Ord-
nung sich auflösen würde. Sagenhaft und mysteriös muſs
auch das Schreiben Jesu auf die Erde erscheinen, wel-
ches, wenn es auch die Glosse des Hieronymus: eorum
videlicet, qui accusabant, et omnium mortalium peccata,
nicht richtig erklärt, doch etwas Geheimniſsvolleres, als
bloſse Abweisung der Ankläger zu enthalten scheint.
Kaum denkbar endlich ist es, daſs alle die gesetzeseifri-
gen und Jesu abgeneigten Menschen, welche die Frau
zu ihm geschleppt hatten, ein so zartes Gewissen gehabt
haben sollten, um auf die Schärfung desselben durch
Jesum hin sich sämmtlich unverrichteter Dinge zu ent-
fernen, und das Weib ungekränkt zurückzulassen, son-
dern dieſs scheint nur zur poëtischen Ausschmückung der
Scene in der Sage zu gehören. So unwahrscheinlich die-
sen Bemerkungen zufolge werden muſs, daſs die Begeben-
heit gerade so, wie sie hier erzählt wird, vorgefallen sei:
so wenig beweist dieſs doch, wie Bretschneider mit Recht
festhält 5), gegen die Ächtheit der Perikope, da die apo-
stolische Abfassung des vierten Evangeliums, mithin die
Unmöglichkeit, eine in sich widersprechende Erzählung
als Bestandtheil desselben zu betrachten, vor Untersuchung
eben aller seiner einzelnen Theile ohne unverantwortlichen
Cirkel nicht vorausgesezt werden darf. Indeſs ist doch
auf der andern Seite das Fehlen des Abschnitts in den
ältesten Auktoritäten so bedenklich, daſs eine Entschei-
dung in der Sache nicht wohl gewagt werden kann.
Sehr alt muſs in jedem Falle die Erzählung von dem
Zusammentreffen Jesu mit einer Sünderin sein, da sie
nach Eusebius schon im Hebräerevangelium und bei Papias
sich vorfand 6). Von jeher war es gewöhnlich, diese
5) Probab. S. 72 ff.
6) Euseb. H. E. 3, 39: ἐκτέϑειται δὲ (ὁ Παπίας) καὶ ἄλλην
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