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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 94.
es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da-
her musste nach der späteren Meinung der heilige Mann
als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver-
wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch
nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil-
kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und
dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte
fasste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man-
tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des
Apostels Paulus entfernte, desto getroster liess man seine
Heilkraft im Schweisstuch nach Hause tragen.

§. 94.
Heilungen in die Ferne.

Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol-
che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent-
lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch blosse
körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er-
folgen diese durch den blossen Willensakt ohne leibliche
Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber
muss man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, dass
sie bei der blossen leiblichen Berührung unwillkührlich sich
entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, dass der
blosse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin-
übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh-
ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so
materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen.
Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be-
zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum,
und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der
Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.

Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil-
kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung
des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum,
Johannes die des kranken Sohns eines basilikos ebenda-

Neuntes Kapitel. §. 94.
es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da-
her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann
als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver-
wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch
nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil-
kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und
dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte
faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man-
tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des
Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine
Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen.

§. 94.
Heilungen in die Ferne.

Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol-
che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent-
lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse
körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er-
folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche
Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber
muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs
sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich
entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der
bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin-
übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh-
ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so
materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen.
Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be-
zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum,
und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der
Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen.

Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil-
kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung
des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum,
Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda-

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[103/0122] Neuntes Kapitel. §. 94. es immer mehr in das materielle Sein herabzuziehen. Da- her muſste nach der späteren Meinung der heilige Mann als Knochenreliquie Wunder thun, Christi Leib in der ver- wandelten Hostie gegenwärtig sein, und ebendaher auch nach einer schon frühe ausgebildeten Vorstellung die Heil- kraft der neutestamentlichen Männer an ihrem Leib und dessen Bedeckungen haften. Je weniger man Jesu Worte faſste, desto mehr hielt man auf das Fassen seines Man- tels, und je mehr man sich von der freien Geisteskraft des Apostels Paulus entfernte, desto getroster lieſs man seine Heilkraft im Schweiſstuch nach Hause tragen. §. 94. Heilungen in die Ferne. Von jenen unwillkührlichen Heilungen sind nun sol- che, welche aus der Entfernung bewirkt werden, eigent- lich das gerade Gegentheil. Geschehen jene durch bloſse körperliche Berührung, ohne besondern Willensakt: so er- folgen diese durch den bloſsen Willensakt ohne leibliche Berührung oder auch nur räumliche Nähe. Zugleich aber muſs man sagen: war die Heilkraft Jesu so materiell, daſs sie bei der bloſsen leiblichen Berührung unwillkührlich sich entlud, so kann sie nicht so geistig gewesen sein, daſs der bloſse Wille sie auch über bedeutende Entfernungen hin- übergetragen hätte; war sie aber so geistig, um auch oh- ne leibliche Gegenwart zu wirken, so kann sie nicht so materiell gewesen sein, um ohne Willen sich zu entladen. Da wir nun jene reinphysische Wirkungsweise Jesu be- zweifelt haben: so bliebe uns für diese geistige freier Raum, und die Entscheidung über dieselbe wird also rein von der Untersuchung der Berichte und der Sache selber abhängen. Als Proben einer solchen in die Ferne wirkenden Heil- kraft Jesu berichten uns Matthäus und Lukas die Heilung des kranken Knechts eines Hauptmanns zu Kapernaum, Johannes die des kranken Sohns eines βασιλικὸς ebenda-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/122>, abgerufen am 21.11.2024.