Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 94. fenheit der Berichte heraus zu prüfen haben. Das nun,dass dem vierten Evangelisten der Bittende ein basilikos ist, nicht, wie den übrigen, ein ekatontarkhos, ist ein in- differenter Zug, aus welchem sich für keinen Theil etwas schliessen lässt, und ebenso kann es mit der Abweichung in Betreff des Verhältnisses des Kranken zum Bittsteller sich zu verhalten scheinen. Indessen, wenn man in Bezug auf den lezteren Punkt sich fragt: welche der drei Bezeich- nungsweisen eignet sich am ehesten dazu, die beiden an- dern aus sich haben entstehen zu lassen? so wird man wohl schwerlich annehmen können, dass aus dem johanneischen uios in absteigender Linie zuerst unbestimmt ein pais, dann ein doulos geworden sei, und auch die umgekehrte aufsteigende Richtung ist hier minder wahrscheinlich, als das Mittlere, dass aus dem zweideutigen pais, welches wir im ersten Evangelium finden, in zwei Richtungen das ei- nemal ein Knecht, wie bei Lukas, das andremal ein Sohn, wie bei Johannes, gemacht worden sein mag. Dass die Be- zeichnung des Zustandes, in welchem sich der Leidende befand, bei Johannes wie bei Lukas sich zu der bei Mat- thäus als Steigerung, mithin als die spätere verhalte, ist bereits oben bemerkt. Der Unterschied in der Ortsan- gabe würde auf dem jetzigen Standpunkt der verglei- chenden Evangelienkritik ohne Zweifel so beurtheilt wer- den, dass in der apostolischen Tradition, aus welcher die Synoptiker schöpften, der Ort, von welchem aus Jesus das Wunder verrichtete, mit dem, in welchem der Kranke lag, zusammengeflossen, das minder bekannte Kana von dem berühmten Kapernaum verschlungen worden sei, Jo- hannes aber, als Augenzeuge, das Genauere aufbewahrt habe. Allein so erscheint das Verhältniss nur, wenn man den vierten Evangelisten als Augenzeugen schon voraus- sezt: sucht man, wie man soll, rein aus der Beschaffen- heit der Berichte heraus zu entscheiden, so stellt sich ein ganz anderes Ergebniss heraus. Es wird hier eine Hei- Das Leben Jesu II. Band. 8
Neuntes Kapitel. §. 94. fenheit der Berichte heraus zu prüfen haben. Das nun,daſs dem vierten Evangelisten der Bittende ein βασιλικὸς ist, nicht, wie den übrigen, ein ἑκατόνταρχος, ist ein in- differenter Zug, aus welchem sich für keinen Theil etwas schlieſsen läſst, und ebenso kann es mit der Abweichung in Betreff des Verhältnisses des Kranken zum Bittsteller sich zu verhalten scheinen. Indessen, wenn man in Bezug auf den lezteren Punkt sich fragt: welche der drei Bezeich- nungsweisen eignet sich am ehesten dazu, die beiden an- dern aus sich haben entstehen zu lassen? so wird man wohl schwerlich annehmen können, daſs aus dem johanneischen υἱὸς in absteigender Linie zuerst unbestimmt ein παῖς, dann ein δοῦλος geworden sei, und auch die umgekehrte aufsteigende Richtung ist hier minder wahrscheinlich, als das Mittlere, daſs aus dem zweideutigen παῖς, welches wir im ersten Evangelium finden, in zwei Richtungen das ei- nemal ein Knecht, wie bei Lukas, das andremal ein Sohn, wie bei Johannes, gemacht worden sein mag. Daſs die Be- zeichnung des Zustandes, in welchem sich der Leidende befand, bei Johannes wie bei Lukas sich zu der bei Mat- thäus als Steigerung, mithin als die spätere verhalte, ist bereits oben bemerkt. Der Unterschied in der Ortsan- gabe würde auf dem jetzigen Standpunkt der verglei- chenden Evangelienkritik ohne Zweifel so beurtheilt wer- den, daſs in der apostolischen Tradition, aus welcher die Synoptiker schöpften, der Ort, von welchem aus Jesus das Wunder verrichtete, mit dem, in welchem der Kranke lag, zusammengeflossen, das minder bekannte Kana von dem berühmten Kapernaum verschlungen worden sei, Jo- hannes aber, als Augenzeuge, das Genauere aufbewahrt habe. Allein so erscheint das Verhältniſs nur, wenn man den vierten Evangelisten als Augenzeugen schon voraus- sezt: sucht man, wie man soll, rein aus der Beschaffen- heit der Berichte heraus zu entscheiden, so stellt sich ein ganz anderes Ergebniſs heraus. Es wird hier eine Hei- Das Leben Jesu II. Band. 8
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Neuntes Kapitel. §. 94.
fenheit der Berichte heraus zu prüfen haben. Das nun,
daſs dem vierten Evangelisten der Bittende ein βασιλικὸς
ist, nicht, wie den übrigen, ein ἑκατόνταρχος, ist ein in-
differenter Zug, aus welchem sich für keinen Theil etwas
schlieſsen läſst, und ebenso kann es mit der Abweichung
in Betreff des Verhältnisses des Kranken zum Bittsteller
sich zu verhalten scheinen. Indessen, wenn man in Bezug
auf den lezteren Punkt sich fragt: welche der drei Bezeich-
nungsweisen eignet sich am ehesten dazu, die beiden an-
dern aus sich haben entstehen zu lassen? so wird man wohl
schwerlich annehmen können, daſs aus dem johanneischen
υἱὸς in absteigender Linie zuerst unbestimmt ein παῖς,
dann ein δοῦλος geworden sei, und auch die umgekehrte
aufsteigende Richtung ist hier minder wahrscheinlich, als
das Mittlere, daſs aus dem zweideutigen παῖς, welches wir
im ersten Evangelium finden, in zwei Richtungen das ei-
nemal ein Knecht, wie bei Lukas, das andremal ein Sohn,
wie bei Johannes, gemacht worden sein mag. Daſs die Be-
zeichnung des Zustandes, in welchem sich der Leidende
befand, bei Johannes wie bei Lukas sich zu der bei Mat-
thäus als Steigerung, mithin als die spätere verhalte, ist
bereits oben bemerkt. Der Unterschied in der Ortsan-
gabe würde auf dem jetzigen Standpunkt der verglei-
chenden Evangelienkritik ohne Zweifel so beurtheilt wer-
den, daſs in der apostolischen Tradition, aus welcher die
Synoptiker schöpften, der Ort, von welchem aus Jesus
das Wunder verrichtete, mit dem, in welchem der Kranke
lag, zusammengeflossen, das minder bekannte Kana von
dem berühmten Kapernaum verschlungen worden sei, Jo-
hannes aber, als Augenzeuge, das Genauere aufbewahrt
habe. Allein so erscheint das Verhältniſs nur, wenn man
den vierten Evangelisten als Augenzeugen schon voraus-
sezt: sucht man, wie man soll, rein aus der Beschaffen-
heit der Berichte heraus zu entscheiden, so stellt sich ein
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