Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Zweiter Abschnitt. des vierten Evangeliums zurechtzukommen. Hier, wird be-merkt, sage Jesus nichts davon, dass er die Heilung des Kranken bewirken wolle, sondern er versichere den Vater nur, dass das Leben seines Sohnes ausser Gefahr sei (o uios sou ze), und auch der Vater, wie er finde, dass das Besserwerden seines Sohnes mit der Zeit, um welche er mit Jesus gesprochen, zusammenfalle, schliesse keineswegs, dass Jesus die Heilung aus der Ferne bewirkt habe. So sei diese Geschichte nur die Probe davon, dass Jesus, ver- möge gründlicher Kenntnisse in der Semiotik, im Stande gewesen sei, auf gegebene Beschreibung der Umstände ei- nes Kranken hin eine richtige Prognose über den Verlauf seiner Krankheit zu stellen; dass jene Beschreibung hier nicht mitgetheilt sei, daraus folge nicht, dass sie Jesus sich nicht habe geben lassen; ein semeion aber werde diese Probe (V. 54.) genannt, als Zeichen einer von Jo- hannes zuvor noch nicht angedeuteten Fertigkeit Jesu, die Genesung eines besorglich Kranken vorauszusagen 10) Al- lein, abgesehen von dieser Missdeutung des Wortes semeion und jener Einschwärzung eines im Text nicht angedeute- ten Gesprächs, erschiene bei dieser Ansicht von der Sa- che der Charakter und selbst der Verstand Jesu im zweideutigsten Lichte. Denn, wenn wir schon denjenigen Arzt für unvorsichtig halten würden, welcher auf selbst- genommenen Augenschein hin bei einem Fieberkranken, den man so eben noch für sterbend hielt, die Genesung verbürgte, und dadurch seinen Kredit auf das Spiel sez- te: um wie viel vermessener hätte Jesus gehandelt, wenn er auf die blosse Beschreibung eines Laien hin die Ge- fahrlosigkeit des Umstandes versichert hätte? Ein solches Benehmen können wir uns an ihm desswegen nicht den- ken, weil es der Analogie seines sonstigen Verfahrens, und 10) Paulus, Comm. 4, S. 253 f. Venturini, 2, S. 140 ff. Vgl.
Hase, §. 68. Zweiter Abschnitt. des vierten Evangeliums zurechtzukommen. Hier, wird be-merkt, sage Jesus nichts davon, daſs er die Heilung des Kranken bewirken wolle, sondern er versichere den Vater nur, daſs das Leben seines Sohnes ausser Gefahr sei (ὁ υἱός σου ζῇ), und auch der Vater, wie er finde, daſs das Besserwerden seines Sohnes mit der Zeit, um welche er mit Jesus gesprochen, zusammenfalle, schlieſse keineswegs, daſs Jesus die Heilung aus der Ferne bewirkt habe. So sei diese Geschichte nur die Probe davon, daſs Jesus, ver- möge gründlicher Kenntnisse in der Semiotik, im Stande gewesen sei, auf gegebene Beschreibung der Umstände ei- nes Kranken hin eine richtige Prognose über den Verlauf seiner Krankheit zu stellen; daſs jene Beschreibung hier nicht mitgetheilt sei, daraus folge nicht, daſs sie Jesus sich nicht habe geben lassen; ein σημεῖον aber werde diese Probe (V. 54.) genannt, als Zeichen einer von Jo- hannes zuvor noch nicht angedeuteten Fertigkeit Jesu, die Genesung eines besorglich Kranken vorauszusagen 10) Al- lein, abgesehen von dieser Miſsdeutung des Wortes σημεῖον und jener Einschwärzung eines im Text nicht angedeute- ten Gesprächs, erschiene bei dieser Ansicht von der Sa- che der Charakter und selbst der Verstand Jesu im zweideutigsten Lichte. Denn, wenn wir schon denjenigen Arzt für unvorsichtig halten würden, welcher auf selbst- genommenen Augenschein hin bei einem Fieberkranken, den man so eben noch für sterbend hielt, die Genesung verbürgte, und dadurch seinen Kredit auf das Spiel sez- te: um wie viel vermessener hätte Jesus gehandelt, wenn er auf die bloſse Beschreibung eines Laien hin die Ge- fahrlosigkeit des Umstandes versichert hätte? Ein solches Benehmen können wir uns an ihm deſswegen nicht den- ken, weil es der Analogie seines sonstigen Verfahrens, und 10) Paulus, Comm. 4, S. 253 f. Venturini, 2, S. 140 ff. Vgl.
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Zweiter Abschnitt.
des vierten Evangeliums zurechtzukommen. Hier, wird be-
merkt, sage Jesus nichts davon, daſs er die Heilung des
Kranken bewirken wolle, sondern er versichere den Vater
nur, daſs das Leben seines Sohnes ausser Gefahr sei (ὁ
υἱός σου ζῇ), und auch der Vater, wie er finde, daſs das
Besserwerden seines Sohnes mit der Zeit, um welche er
mit Jesus gesprochen, zusammenfalle, schlieſse keineswegs,
daſs Jesus die Heilung aus der Ferne bewirkt habe. So
sei diese Geschichte nur die Probe davon, daſs Jesus, ver-
möge gründlicher Kenntnisse in der Semiotik, im Stande
gewesen sei, auf gegebene Beschreibung der Umstände ei-
nes Kranken hin eine richtige Prognose über den Verlauf
seiner Krankheit zu stellen; daſs jene Beschreibung hier
nicht mitgetheilt sei, daraus folge nicht, daſs sie Jesus
sich nicht habe geben lassen; ein σημεῖον aber werde
diese Probe (V. 54.) genannt, als Zeichen einer von Jo-
hannes zuvor noch nicht angedeuteten Fertigkeit Jesu, die
Genesung eines besorglich Kranken vorauszusagen 10) Al-
lein, abgesehen von dieser Miſsdeutung des Wortes σημεῖον
und jener Einschwärzung eines im Text nicht angedeute-
ten Gesprächs, erschiene bei dieser Ansicht von der Sa-
che der Charakter und selbst der Verstand Jesu im
zweideutigsten Lichte. Denn, wenn wir schon denjenigen
Arzt für unvorsichtig halten würden, welcher auf selbst-
genommenen Augenschein hin bei einem Fieberkranken,
den man so eben noch für sterbend hielt, die Genesung
verbürgte, und dadurch seinen Kredit auf das Spiel sez-
te: um wie viel vermessener hätte Jesus gehandelt, wenn
er auf die bloſse Beschreibung eines Laien hin die Ge-
fahrlosigkeit des Umstandes versichert hätte? Ein solches
Benehmen können wir uns an ihm deſswegen nicht den-
ken, weil es der Analogie seines sonstigen Verfahrens, und
10) Paulus, Comm. 4, S. 253 f. Venturini, 2, S. 140 ff. Vgl.
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