Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh- lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden, dass einer so grossartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo- hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab- binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte 21): doch führt diess noch keine Entscheidung herbei. Dass in der Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt, und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der kinesis tou udatos V. 3. und dem tarakhthe V. 7.), beweist gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau- ben getheilt haben kann. Dass nun aber ein seit 38 Jah- ren in der Art gelähmter Mensch, dass er zum Gehen un- fähig auf einem Bette liegen musste, durch ein Wort völlig wiederhergestellt worden sein soll, diess denkbar zu ma- chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir- kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.), noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn diess wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli- chen hinausheben. Dagegen hätte man das, dass Jesus aus der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be- thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus- erkor, niemals bedenklich finden sollen 22), da die Heilung dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet, sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an- drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi- schen Charakters der Erzählung. Auf einem grossen Schau-
21)Bretschneider, Probab. S. 69.
22) Wie Hase, L. J. §. 92.
9 *
Neuntes Kapitel. §. 95.
Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh- lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden, daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo- hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab- binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte 21): doch führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt, und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der κίνησις τοῦ ὕδατος V. 3. und dem ταραχϑῇ V. 7.), beweist gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau- ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah- ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un- fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma- chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir- kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.), noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli- chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be- thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus- erkor, niemals bedenklich finden sollen 22), da die Heilung dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet, sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an- drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi- schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau-
21)Bretschneider, Probab. S. 69.
22) Wie Hase, L. J. §. 92.
9 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0150"n="131"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 95.</fw><lb/><p>Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh-<lb/>
lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden,<lb/>
daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo-<lb/>
hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab-<lb/>
binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung<lb/>
an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte <noteplace="foot"n="21)"><hirendition="#k">Bretschneider</hi>, Probab. S. 69.</note>: doch<lb/>
führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der<lb/>
Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt,<lb/>
und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn<lb/>
auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der<lb/>κίνησιςτοῦὕδατος V. 3. und dem <foreignxml:lang="ell">ταραχϑῇ</foreign> V. 7.), beweist<lb/>
gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein<lb/>
Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau-<lb/>
ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah-<lb/>
ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un-<lb/>
fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig<lb/>
wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma-<lb/>
chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir-<lb/>
kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.),<lb/>
noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus<lb/>
u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs<lb/>
wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es<lb/>
erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli-<lb/>
chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus<lb/>
der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be-<lb/>
thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus-<lb/>
erkor, niemals bedenklich finden sollen <noteplace="foot"n="22)">Wie <hirendition="#k">Hase</hi>, L. J. §. 92.</note>, da die Heilung<lb/>
dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der<lb/>
messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet,<lb/>
sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an-<lb/>
drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi-<lb/>
schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">9 *</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[131/0150]
Neuntes Kapitel. §. 95.
Was nun die historische Glaubwürdigkeit der Erzäh-
lugn betrifft, so kann man es allerdings auffallend finden,
daſs einer so groſsartigen Wohlthätigkeitsanstalt, wie Jo-
hannes Bethesda beschreibt, weder Josephus noch die Rab-
binen Erwähnung thun, zumal, wenn die Volksmeinung
an den Teich eine wunderbare Heilkraft knüpfte 21): doch
führt dieſs noch keine Entscheidung herbei. Daſs in der
Beschreibung des Teiches ein fabelhafter Volksglaube liegt,
und vom Referenten acceptirt zu werden scheint (wenn
auch V. 4. unächt ist, so liegt jener Glaube doch in der
κίνησις τοῦ ὕδατος V. 3. und dem ταραχϑῇ V. 7.), beweist
gegen die Wahrheit der Erzählung nichts, da auch ein
Augenzeuge und Jünger Jesu den betreffenden Volksglau-
ben getheilt haben kann. Daſs nun aber ein seit 38 Jah-
ren in der Art gelähmter Mensch, daſs er zum Gehen un-
fähig auf einem Bette liegen muſste, durch ein Wort völlig
wiederhergestellt worden sein soll, dieſs denkbar zu ma-
chen, reicht weder die Annahme psychologischer Einwir-
kung (der Mensch kannte ja Jesum nicht einmal, V. 13.),
noch irgend welche physische Analogie (wie Magnetismus
u. dergl.) auch nur von ferne hin, sondern wenn dieſs
wirklich erfolgt ist, so müssen wir den, durch welchen es
erfolgte, über alle Grenzen des Menschlichen und Natürli-
chen hinausheben. Dagegen hätte man das, daſs Jesus aus
der Menge von Kranken, welche in den Hallen von Be-
thesda sich befanden, nur diesen einzigen zur Heilung aus-
erkor, niemals bedenklich finden sollen 22), da die Heilung
dessen, der am längsten krank lag, zur Verherrlichung der
messianischen Wunderkraft nicht nur besonders geeignet,
sondern auch hinreichend war. Dennoch knüpft sich an-
drerseits eben an diesen Zug die Vermuthung eines mythi-
schen Charakters der Erzählung. Auf einem groſsen Schau-
21) Bretschneider, Probab. S. 69.
22) Wie Hase, L. J. §. 92.
9 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/150>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.