Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Neuntes Kapitel. §. 97.
Stelle dem Geist unsres Schriftstellers vollkommen ange-
messen ist. Nicht zufrieden mit der Darstellung seines Ge-
währsmanns, dass Jesus mit besondrer Rücksicht auf die
Jünger diessmal einen so ausserordentlichen Weg gemacht
habe, giebt er durch jenen Zusaz der Sache die Wendung,
als wäre Jesu ein solches Gehen auf dem Wasser so na-
türlich und gewöhnlich gewesen, dass er auch ohne Rück-
sicht auf die Jünger, wo ihm ein Wasser im Wege lag,
seine Strasse über dasselbe so unbedenklich, wie über fe-
stes Land, nahm. Dass nun ein solches Gehen bei Jesu ha-
bituell gewesen, diess würde am entschiedensten eine Ols-
hausen
'sche Leibesverklärung, mithin das Undenkbare, vor-
aussetzen, wodurch sich dieser Zug als einer der stärk-
sten von jenen zu erkennen giebt, durch welche das zweite
Evangelium sich hin und wieder der apokryphischen Über-
treibung nähert 14).

Auf andre Weise findet sich bei Matthäus das Wun-
derbare des Vorgangs, nicht sowohl gesteigert, als verviel-
fältigt, indem er ausser Jesu auch den Petrus einen, wie-
wohl nicht ganz gut abgelaufenen, Versuch im Gehen auf
dem Meere machen lässt. Diesen Zug macht ausser dem
Stillschweigen der beiden Correferenten auch seine eigne
Natur verdächtig. Auf das Wort Jesu hin und durch sei-
nen anfänglichen Glauben vermag Petrus wirklich eine
Zeit lang auf dem Wasser zu gehen, und erst als Furcht
und Kleingläubigkeit ihn ergreift, fängt er unterzusinken
an. Was sollen wir nun hievon denken? Vermochte Je-
sus mittelst eines verklärten Leibes auf dem Wasser zu ge-
hen: wie konnte er dem Petrus, der eines solchen Kör-

14) Des Markus Neigung zum Übertreiben zeigt sich auch in der
Schlussformel, V. 51 (vgl. 7, 37): kai lian ek perissou en
eautois exisanto kai ethaumazon, worin man doch nicht mit
Paulus (2, S. 266) eine Missbilligung des unverhältnissmäs-
sigen Erstaunens wird finden wollen.

Neuntes Kapitel. §. 97.
Stelle dem Geist unsres Schriftstellers vollkommen ange-
messen ist. Nicht zufrieden mit der Darstellung seines Ge-
währsmanns, daſs Jesus mit besondrer Rücksicht auf die
Jünger dieſsmal einen so ausserordentlichen Weg gemacht
habe, giebt er durch jenen Zusaz der Sache die Wendung,
als wäre Jesu ein solches Gehen auf dem Wasser so na-
türlich und gewöhnlich gewesen, daſs er auch ohne Rück-
sicht auf die Jünger, wo ihm ein Wasser im Wege lag,
seine Straſse über dasselbe so unbedenklich, wie über fe-
stes Land, nahm. Daſs nun ein solches Gehen bei Jesu ha-
bituell gewesen, dieſs würde am entschiedensten eine Ols-
hausen
'sche Leibesverklärung, mithin das Undenkbare, vor-
aussetzen, wodurch sich dieser Zug als einer der stärk-
sten von jenen zu erkennen giebt, durch welche das zweite
Evangelium sich hin und wieder der apokryphischen Über-
treibung nähert 14).

Auf andre Weise findet sich bei Matthäus das Wun-
derbare des Vorgangs, nicht sowohl gesteigert, als verviel-
fältigt, indem er ausser Jesu auch den Petrus einen, wie-
wohl nicht ganz gut abgelaufenen, Versuch im Gehen auf
dem Meere machen läſst. Diesen Zug macht ausser dem
Stillschweigen der beiden Correferenten auch seine eigne
Natur verdächtig. Auf das Wort Jesu hin und durch sei-
nen anfänglichen Glauben vermag Petrus wirklich eine
Zeit lang auf dem Wasser zu gehen, und erst als Furcht
und Kleingläubigkeit ihn ergreift, fängt er unterzusinken
an. Was sollen wir nun hievon denken? Vermochte Je-
sus mittelst eines verklärten Leibes auf dem Wasser zu ge-
hen: wie konnte er dem Petrus, der eines solchen Kör-

14) Des Markus Neigung zum Übertreiben zeigt sich auch in der
Schlussformel, V. 51 (vgl. 7, 37): καὶ λίαν ἐκ περισσοῦ ἐν
ἑαυτοῖς ἐξίςαντο καὶ ἐϑαύμαζον, worin man doch nicht mit
Paulus (2, S. 266) eine Missbilligung des unverhältnissmäs-
sigen Erstaunens wird finden wollen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0204" n="185"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Kapitel</hi>. §. 97.</fw><lb/>
Stelle dem Geist unsres Schriftstellers vollkommen ange-<lb/>
messen ist. Nicht zufrieden mit der Darstellung seines Ge-<lb/>
währsmanns, da&#x017F;s Jesus mit besondrer Rücksicht auf die<lb/>
Jünger die&#x017F;smal einen so ausserordentlichen Weg gemacht<lb/>
habe, giebt er durch jenen Zusaz der Sache die Wendung,<lb/>
als wäre Jesu ein solches Gehen auf dem Wasser so na-<lb/>
türlich und gewöhnlich gewesen, da&#x017F;s er auch ohne Rück-<lb/>
sicht auf die Jünger, wo ihm ein Wasser im Wege lag,<lb/>
seine Stra&#x017F;se über dasselbe so unbedenklich, wie über fe-<lb/>
stes Land, nahm. Da&#x017F;s nun ein solches Gehen bei Jesu ha-<lb/>
bituell gewesen, die&#x017F;s würde am entschiedensten eine <hi rendition="#k">Ols-<lb/>
hausen</hi>'sche Leibesverklärung, mithin das Undenkbare, vor-<lb/>
aussetzen, wodurch sich dieser Zug als einer der stärk-<lb/>
sten von jenen zu erkennen giebt, durch welche das zweite<lb/>
Evangelium sich hin und wieder der apokryphischen Über-<lb/>
treibung nähert <note place="foot" n="14)">Des Markus Neigung zum Übertreiben zeigt sich auch in der<lb/>
Schlussformel, V. 51 (vgl. 7, 37): <foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x03BB;&#x03AF;&#x03B1;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BA; &#x03C0;&#x03B5;&#x03C1;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C3;&#x03BF;&#x03C5;&#x0342; &#x1F10;&#x03BD;<lb/>
&#x1F11;&#x03B1;&#x03C5;&#x03C4;&#x03BF;&#x1FD6;&#x03C2; &#x1F10;&#x03BE;&#x03AF;&#x03C2;&#x03B1;&#x03BD;&#x03C4;&#x03BF; &#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F10;&#x03D1;&#x03B1;&#x03CD;&#x03BC;&#x03B1;&#x03B6;&#x03BF;&#x03BD;</foreign>, worin man doch nicht mit<lb/><hi rendition="#k">Paulus</hi> (2, S. 266) eine Missbilligung des unverhältnissmäs-<lb/>
sigen Erstaunens wird finden wollen.</note>.</p><lb/>
          <p>Auf andre Weise findet sich bei Matthäus das Wun-<lb/>
derbare des Vorgangs, nicht sowohl gesteigert, als verviel-<lb/>
fältigt, indem er ausser Jesu auch den Petrus einen, wie-<lb/>
wohl nicht ganz gut abgelaufenen, Versuch im Gehen auf<lb/>
dem Meere machen lä&#x017F;st. Diesen Zug macht ausser dem<lb/>
Stillschweigen der beiden Correferenten auch seine eigne<lb/>
Natur verdächtig. Auf das Wort Jesu hin und durch sei-<lb/>
nen anfänglichen Glauben vermag Petrus wirklich eine<lb/>
Zeit lang auf dem Wasser zu gehen, und erst als Furcht<lb/>
und Kleingläubigkeit ihn ergreift, fängt er unterzusinken<lb/>
an. Was sollen wir nun hievon denken? Vermochte Je-<lb/>
sus mittelst eines verklärten Leibes auf dem Wasser zu ge-<lb/>
hen: wie konnte er dem Petrus, der eines solchen Kör-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0204] Neuntes Kapitel. §. 97. Stelle dem Geist unsres Schriftstellers vollkommen ange- messen ist. Nicht zufrieden mit der Darstellung seines Ge- währsmanns, daſs Jesus mit besondrer Rücksicht auf die Jünger dieſsmal einen so ausserordentlichen Weg gemacht habe, giebt er durch jenen Zusaz der Sache die Wendung, als wäre Jesu ein solches Gehen auf dem Wasser so na- türlich und gewöhnlich gewesen, daſs er auch ohne Rück- sicht auf die Jünger, wo ihm ein Wasser im Wege lag, seine Straſse über dasselbe so unbedenklich, wie über fe- stes Land, nahm. Daſs nun ein solches Gehen bei Jesu ha- bituell gewesen, dieſs würde am entschiedensten eine Ols- hausen'sche Leibesverklärung, mithin das Undenkbare, vor- aussetzen, wodurch sich dieser Zug als einer der stärk- sten von jenen zu erkennen giebt, durch welche das zweite Evangelium sich hin und wieder der apokryphischen Über- treibung nähert 14). Auf andre Weise findet sich bei Matthäus das Wun- derbare des Vorgangs, nicht sowohl gesteigert, als verviel- fältigt, indem er ausser Jesu auch den Petrus einen, wie- wohl nicht ganz gut abgelaufenen, Versuch im Gehen auf dem Meere machen läſst. Diesen Zug macht ausser dem Stillschweigen der beiden Correferenten auch seine eigne Natur verdächtig. Auf das Wort Jesu hin und durch sei- nen anfänglichen Glauben vermag Petrus wirklich eine Zeit lang auf dem Wasser zu gehen, und erst als Furcht und Kleingläubigkeit ihn ergreift, fängt er unterzusinken an. Was sollen wir nun hievon denken? Vermochte Je- sus mittelst eines verklärten Leibes auf dem Wasser zu ge- hen: wie konnte er dem Petrus, der eines solchen Kör- 14) Des Markus Neigung zum Übertreiben zeigt sich auch in der Schlussformel, V. 51 (vgl. 7, 37): καὶ λίαν ἐκ περισσοῦ ἐν ἑαυτοῖς ἐξίςαντο καὶ ἐϑαύμαζον, worin man doch nicht mit Paulus (2, S. 266) eine Missbilligung des unverhältnissmäs- sigen Erstaunens wird finden wollen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/204
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/204>, abgerufen am 21.11.2024.