Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Neuntes Kapitel. §. 100. türliche Ursachen habe verdorren können. Demgemässsoll nun Jesus an dem Baume neben dem Mangel an Früch- ten auch sonst noch eine Beschaffenheit bemerkt haben, aus welcher er ein baldiges Absterben desselben prognosti- cirte, und dieses Prognostikon soll er ihm in den Worten: von dir wird wohl Niemand mehr Früchte zu essen be- kommen, gestellt haben. Als die Hitze des Tages die Vor- aussage Jesu unvermuthet schnell verwirklichte, und die Jünger diess am andern Morgen bemerkten, da erst sez- ten sie diesen Erfolg mit den Worten Jesu vom vorigen Morgen in Verbindung, und begannen diese als Verwün- schung aufzufassen; eine Deutung, welche übrigens Jesus nicht bestätigt, sondern den Jüngern zu Gemüthe führt, mit nur einigem Selbstvertrauen werden sie nicht bloss solche schon physiologisch bemerkbare Erfolge voraussa- gen, sondern noch viel Schwereres wissen und bewirken können 1). Allein gesezt auch, die Angabe des Markus wäre die richtige, so bleibt doch auch so die natürliche Er- klärung unmöglich. Denn die Worte Jesu bei Markus (V. 14.): meketi ek sou eis ton aiona medeis karpon phagoi, müssten, wenn sie bloss eine Vermuthung, was wohl ge- schehen werde, enthalten sollten, nothwendig ein an bei sich haben, und in dem meketi ek soukarpos genetai des Matthäus ist ohnehin der Befehl nicht zu verkennen, ob- gleich Paulus auch hier mit einem blossen "mag werden" abkommen möchte. Auch dass Jesus den Baum selbst an- redet, so wie das feierliche eis ton aiona, welches er hin- zufügt, spricht gegen eine simple Voraussage und für die Verwünschung; Paulus fühlt diess wohl, und deutet daher mit unerlaubter Gewaltsamkeit das legei aute zu einem Sagen in Beziehung auf den Baum um, während er das eis ton aiona durch die Übersetzung: in die Folgezeit hin, abschwächt. Doch gesezt auch, die Evangelisten hätten aus 1) Paulus, ex. Handb., 3, a, S. 157 ff.
Neuntes Kapitel. §. 100. türliche Ursachen habe verdorren können. Demgemäſssoll nun Jesus an dem Baume neben dem Mangel an Früch- ten auch sonst noch eine Beschaffenheit bemerkt haben, aus welcher er ein baldiges Absterben desselben prognosti- cirte, und dieses Prognostikon soll er ihm in den Worten: von dir wird wohl Niemand mehr Früchte zu essen be- kommen, gestellt haben. Als die Hitze des Tages die Vor- aussage Jesu unvermuthet schnell verwirklichte, und die Jünger dieſs am andern Morgen bemerkten, da erst sez- ten sie diesen Erfolg mit den Worten Jesu vom vorigen Morgen in Verbindung, und begannen diese als Verwün- schung aufzufassen; eine Deutung, welche übrigens Jesus nicht bestätigt, sondern den Jüngern zu Gemüthe führt, mit nur einigem Selbstvertrauen werden sie nicht bloſs solche schon physiologisch bemerkbare Erfolge voraussa- gen, sondern noch viel Schwereres wissen und bewirken können 1). Allein gesezt auch, die Angabe des Markus wäre die richtige, so bleibt doch auch so die natürliche Er- klärung unmöglich. Denn die Worte Jesu bei Markus (V. 14.): μηκέτι ἐκ σοῦ εἰς τὸν αἰῶνα μηδεὶς καρπὸν φάγοι, müſsten, wenn sie bloſs eine Vermuthung, was wohl ge- schehen werde, enthalten sollten, nothwendig ein ἂν bei sich haben, und in dem μηκέτι ἐκ σοῦκαρπὸς γένηται des Matthäus ist ohnehin der Befehl nicht zu verkennen, ob- gleich Paulus auch hier mit einem bloſsen „mag werden“ abkommen möchte. Auch daſs Jesus den Baum selbst an- redet, so wie das feierliche εἰς τὸν αἰῶνα, welches er hin- zufügt, spricht gegen eine simple Voraussage und für die Verwünschung; Paulus fühlt dieſs wohl, und deutet daher mit unerlaubter Gewaltsamkeit das λέγει αὐτῇ zu einem Sagen in Beziehung auf den Baum um, während er das εἰς τὸν αἰῶνα durch die Übersetzung: in die Folgezeit hin, abschwächt. Doch gesezt auch, die Evangelisten hätten aus 1) Paulus, ex. Handb., 3, a, S. 157 ff.
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Neuntes Kapitel. §. 100.
türliche Ursachen habe verdorren können. Demgemäſs
soll nun Jesus an dem Baume neben dem Mangel an Früch-
ten auch sonst noch eine Beschaffenheit bemerkt haben,
aus welcher er ein baldiges Absterben desselben prognosti-
cirte, und dieses Prognostikon soll er ihm in den Worten:
von dir wird wohl Niemand mehr Früchte zu essen be-
kommen, gestellt haben. Als die Hitze des Tages die Vor-
aussage Jesu unvermuthet schnell verwirklichte, und die
Jünger dieſs am andern Morgen bemerkten, da erst sez-
ten sie diesen Erfolg mit den Worten Jesu vom vorigen
Morgen in Verbindung, und begannen diese als Verwün-
schung aufzufassen; eine Deutung, welche übrigens Jesus
nicht bestätigt, sondern den Jüngern zu Gemüthe führt,
mit nur einigem Selbstvertrauen werden sie nicht bloſs
solche schon physiologisch bemerkbare Erfolge voraussa-
gen, sondern noch viel Schwereres wissen und bewirken
können 1). Allein gesezt auch, die Angabe des Markus
wäre die richtige, so bleibt doch auch so die natürliche Er-
klärung unmöglich. Denn die Worte Jesu bei Markus
(V. 14.): μηκέτι ἐκ σοῦ εἰς τὸν αἰῶνα μηδεὶς καρπὸν φάγοι,
müſsten, wenn sie bloſs eine Vermuthung, was wohl ge-
schehen werde, enthalten sollten, nothwendig ein ἂν bei
sich haben, und in dem μηκέτι ἐκ σοῦκαρπὸς γένηται des
Matthäus ist ohnehin der Befehl nicht zu verkennen, ob-
gleich Paulus auch hier mit einem bloſsen „mag werden“
abkommen möchte. Auch daſs Jesus den Baum selbst an-
redet, so wie das feierliche εἰς τὸν αἰῶνα, welches er hin-
zufügt, spricht gegen eine simple Voraussage und für die
Verwünschung; Paulus fühlt dieſs wohl, und deutet daher
mit unerlaubter Gewaltsamkeit das λέγει αὐτῇ zu einem
Sagen in Beziehung auf den Baum um, während er das
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