Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Zehntes Kapitel. §. 102. vorgeht, wird ihr unendlicher Abstand von ihm, ihre Un-fähigkeit, seine Höhe zu erreichen, und seine Überlegenheit bezeichnet; der Prophet, der Empfänger einer Offenba- rung, ist unter den gewöhnlichen Menschen wie ein Wa- chender unter Schlafenden: wesswegen es sich ganz von selbst ergab, wie bei dem tiefsten Leiden, so auch hier bei der höchsten Verherrlichung Jesu die Jünger als schlaf- trunkene darzustellen. Ist somit dieser Zug so weit ent- fernt, der natürlichen Erklärung Vorschub zu thun, dass er vielmehr das an Jesu vorgegangene Wunder durch ei- nen Contrast heben will: so sind wir auch nicht mehr be- fugt, den Bericht des Lukas als den ursprünglichen anzu- sehen, und auf seine Angabe eine Erklärung des Vorfalls zu bauen, sondern umgekehrt werden wir an jenem Zu- saz, in Verbindung mit dem schon erwähnten V. 31., seine Darstellung als abgeleitete und ausgeschmückte erkennen 6), und uns mehr an die der beiden ersten Evangelisten hal- ten müssen. Fällt auf diese Weise die Hauptstütze derje- nigen Auffassung, welche hier nur einen natürlichen Traum der Apostel sicht, so hat diese ausserdem noch eine Menge innerer Schwierigkeiten. Sie sezt nur die drei Jünger als träumend voraus, und lässt Jesum wachen, also nicht in der Illusion begriffen sein. Die ganze evangelische Dar- stellung lautet aber so, als ob Jesus so gut wie die Jün- ger die Erscheinung gehabt hätte; namentlich konnte er, wenn das Ganze nur ein Traum der Jünger war, ihnen nicht hernach sagen: medeni eipete to orama, wodurch er sie ja eben in der Meinung bestärkt hätte, dass es etwas Besonderes und Wunderbares gewesen sei. Hatte aber auch Jesus keinen Theil an dem Traum, so bleibt es doch immer noch unerhört, dass drei Personen zu gleicher Zeit einen und denselben Traum haben sollten. Diess haben die 6) Diese Einsicht hat Bauer, a. a. O. S. 237, Fritzsche, p. 556, und zum Theil auch Paulus, ex. Handb. 2, S. 447 f. 17 *
Zehntes Kapitel. §. 102. vorgeht, wird ihr unendlicher Abstand von ihm, ihre Un-fähigkeit, seine Höhe zu erreichen, und seine Überlegenheit bezeichnet; der Prophet, der Empfänger einer Offenba- rung, ist unter den gewöhnlichen Menschen wie ein Wa- chender unter Schlafenden: weſswegen es sich ganz von selbst ergab, wie bei dem tiefsten Leiden, so auch hier bei der höchsten Verherrlichung Jesu die Jünger als schlaf- trunkene darzustellen. Ist somit dieser Zug so weit ent- fernt, der natürlichen Erklärung Vorschub zu thun, daſs er vielmehr das an Jesu vorgegangene Wunder durch ei- nen Contrast heben will: so sind wir auch nicht mehr be- fugt, den Bericht des Lukas als den ursprünglichen anzu- sehen, und auf seine Angabe eine Erklärung des Vorfalls zu bauen, sondern umgekehrt werden wir an jenem Zu- saz, in Verbindung mit dem schon erwähnten V. 31., seine Darstellung als abgeleitete und ausgeschmückte erkennen 6), und uns mehr an die der beiden ersten Evangelisten hal- ten müssen. Fällt auf diese Weise die Hauptstütze derje- nigen Auffassung, welche hier nur einen natürlichen Traum der Apostel sicht, so hat diese ausserdem noch eine Menge innerer Schwierigkeiten. Sie sezt nur die drei Jünger als träumend voraus, und läſst Jesum wachen, also nicht in der Illusion begriffen sein. Die ganze evangelische Dar- stellung lautet aber so, als ob Jesus so gut wie die Jün- ger die Erscheinung gehabt hätte; namentlich konnte er, wenn das Ganze nur ein Traum der Jünger war, ihnen nicht hernach sagen: μηδενὶ εἴπητε τὸ ὅραμα, wodurch er sie ja eben in der Meinung bestärkt hätte, daſs es etwas Besonderes und Wunderbares gewesen sei. Hatte aber auch Jesus keinen Theil an dem Traum, so bleibt es doch immer noch unerhört, daſs drei Personen zu gleicher Zeit einen und denselben Traum haben sollten. Dieſs haben die 6) Diese Einsicht hat Bauer, a. a. O. S. 237, Fritzsche, p. 556, und zum Theil auch Paulus, ex. Handb. 2, S. 447 f. 17 *
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Zehntes Kapitel. §. 102.
vorgeht, wird ihr unendlicher Abstand von ihm, ihre Un-
fähigkeit, seine Höhe zu erreichen, und seine Überlegenheit
bezeichnet; der Prophet, der Empfänger einer Offenba-
rung, ist unter den gewöhnlichen Menschen wie ein Wa-
chender unter Schlafenden: weſswegen es sich ganz von
selbst ergab, wie bei dem tiefsten Leiden, so auch hier
bei der höchsten Verherrlichung Jesu die Jünger als schlaf-
trunkene darzustellen. Ist somit dieser Zug so weit ent-
fernt, der natürlichen Erklärung Vorschub zu thun, daſs
er vielmehr das an Jesu vorgegangene Wunder durch ei-
nen Contrast heben will: so sind wir auch nicht mehr be-
fugt, den Bericht des Lukas als den ursprünglichen anzu-
sehen, und auf seine Angabe eine Erklärung des Vorfalls
zu bauen, sondern umgekehrt werden wir an jenem Zu-
saz, in Verbindung mit dem schon erwähnten V. 31., seine
Darstellung als abgeleitete und ausgeschmückte erkennen 6),
und uns mehr an die der beiden ersten Evangelisten hal-
ten müssen. Fällt auf diese Weise die Hauptstütze derje-
nigen Auffassung, welche hier nur einen natürlichen Traum
der Apostel sicht, so hat diese ausserdem noch eine Menge
innerer Schwierigkeiten. Sie sezt nur die drei Jünger als
träumend voraus, und läſst Jesum wachen, also nicht in
der Illusion begriffen sein. Die ganze evangelische Dar-
stellung lautet aber so, als ob Jesus so gut wie die Jün-
ger die Erscheinung gehabt hätte; namentlich konnte er,
wenn das Ganze nur ein Traum der Jünger war, ihnen
nicht hernach sagen: μηδενὶ εἴπητε τὸ ὅραμα, wodurch er
sie ja eben in der Meinung bestärkt hätte, daſs es etwas
Besonderes und Wunderbares gewesen sei. Hatte aber
auch Jesus keinen Theil an dem Traum, so bleibt es doch
immer noch unerhört, daſs drei Personen zu gleicher Zeit
einen und denselben Traum haben sollten. Dieſs haben die
6) Diese Einsicht hat Bauer, a. a. O. S. 237, Fritzsche, p. 556,
und zum Theil auch Paulus, ex. Handb. 2, S. 447 f.
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