Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Zehntes Kapitel. §. 104. welche ihn seinem Leiden entgegenführte. Über den Ort,von welchem er bei dieser Reise ausgieng, und den Weg, welchen er nahm, weichen die evangelischen Nachrichten von einander ab. Stimmen über den Ausgangspunkt die Synoptiker zusammen, indem sie sämmtlich Jesum von Ga- liläa aufbrechen lassen (Matth. 19, 1. Marc. 10, 1. Luc. 9, 51., in welcher lezteren Stelle zwar Galiläa nicht aus- drücklich genannt ist, aber aus dem Vorhergehenden, wo nur von Galiläa und Galiläischen Ortschaften die Rede war, so wie aus der im Folgenden erwähnten Reise durch Samarien, sich von selbst ergiebt 1)): so scheinen sie doch über den Weg, welchen Jesus von da nach Judäa ge- wählt habe, von einander abzugehen. Zwar sind die An- gaben zweier von ihnen in diesem Punkte so dunkel, dass sie der harmonisirenden Exegese Vorschub zu leisten schei- nen könnten. Am klarsten und bestimmtesten sagt Mar- kus, Jesus habe seinen Weg über Peräa genommen: aber sein erkhetai eis ta oria tes Ioudaias dia tou peran tou Ior- danou ist schwerlich etwas Anderes, als die Art, wie er sich den schwerverständlichen Ausdruck des Matthäus, dem er in diesem Abschnitt folgt, erklären zu dürfen glaub- te. Was dieser mit seinem meteren apo tes Galilaias kai elthen eis ta oria tes Ioudaias peran touIordanou eigentlich sagen will, ist in der That dunkel. Denn wenn die Er- klärung: er kam in den Theil von Judäa, welcher jenseits des Jordans liegt 2), gleicherweise gegen Geographie wie vereinigte: wie mit Jesu der Gesezgeber und der Prophet sich unterreden, die beiden Säulen des A. T.lichen Lebens, welche Jesus in höherer Weise in sich zusammenschloss; wie bei Plato endlich auch Agathon und Aristophanes ein- schlafen, und Sokrates allein das Feld behält: so verschwin- den im Evangelium Moses und Elias zulezt, und die Jünger sehen nur noch Jesum allein. 1) Schleiermacher, über den Lukas, S. 160. 2) Kuinöl und Gratz z. d. St. 18 *
Zehntes Kapitel. §. 104. welche ihn seinem Leiden entgegenführte. Über den Ort,von welchem er bei dieser Reise ausgieng, und den Weg, welchen er nahm, weichen die evangelischen Nachrichten von einander ab. Stimmen über den Ausgangspunkt die Synoptiker zusammen, indem sie sämmtlich Jesum von Ga- liläa aufbrechen lassen (Matth. 19, 1. Marc. 10, 1. Luc. 9, 51., in welcher lezteren Stelle zwar Galiläa nicht aus- drücklich genannt ist, aber aus dem Vorhergehenden, wo nur von Galiläa und Galiläischen Ortschaften die Rede war, so wie aus der im Folgenden erwähnten Reise durch Samarien, sich von selbst ergiebt 1)): so scheinen sie doch über den Weg, welchen Jesus von da nach Judäa ge- wählt habe, von einander abzugehen. Zwar sind die An- gaben zweier von ihnen in diesem Punkte so dunkel, daſs sie der harmonisirenden Exegese Vorschub zu leisten schei- nen könnten. Am klarsten und bestimmtesten sagt Mar- kus, Jesus habe seinen Weg über Peräa genommen: aber sein ἔρχεται εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας διὰ τοῦ πέραν τοῦ Ἰορ- δάνου ist schwerlich etwas Anderes, als die Art, wie er sich den schwerverständlichen Ausdruck des Matthäus, dem er in diesem Abschnitt folgt, erklären zu dürfen glaub- te. Was dieser mit seinem μετῇρεν ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας καὶ ἦλϑεν εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας πέραν τοῦἸορδάνου eigentlich sagen will, ist in der That dunkel. Denn wenn die Er- klärung: er kam in den Theil von Judäa, welcher jenseits des Jordans liegt 2), gleicherweise gegen Geographie wie vereinigte: wie mit Jesu der Gesezgeber und der Prophet sich unterreden, die beiden Säulen des A. T.lichen Lebens, welche Jesus in höherer Weise in sich zusammenschloss; wie bei Plato endlich auch Agathon und Aristophanes ein- schlafen, und Sokrates allein das Feld behält: so verschwin- den im Evangelium Moses und Elias zulezt, und die Jünger sehen nur noch Jesum allein. 1) Schleiermacher, über den Lukas, S. 160. 2) Kuinöl und Gratz z. d. St. 18 *
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Zehntes Kapitel. §. 104.
welche ihn seinem Leiden entgegenführte. Über den Ort,
von welchem er bei dieser Reise ausgieng, und den Weg,
welchen er nahm, weichen die evangelischen Nachrichten
von einander ab. Stimmen über den Ausgangspunkt die
Synoptiker zusammen, indem sie sämmtlich Jesum von Ga-
liläa aufbrechen lassen (Matth. 19, 1. Marc. 10, 1. Luc.
9, 51., in welcher lezteren Stelle zwar Galiläa nicht aus-
drücklich genannt ist, aber aus dem Vorhergehenden, wo
nur von Galiläa und Galiläischen Ortschaften die Rede
war, so wie aus der im Folgenden erwähnten Reise durch
Samarien, sich von selbst ergiebt 1)): so scheinen sie doch
über den Weg, welchen Jesus von da nach Judäa ge-
wählt habe, von einander abzugehen. Zwar sind die An-
gaben zweier von ihnen in diesem Punkte so dunkel, daſs
sie der harmonisirenden Exegese Vorschub zu leisten schei-
nen könnten. Am klarsten und bestimmtesten sagt Mar-
kus, Jesus habe seinen Weg über Peräa genommen: aber
sein ἔρχεται εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας διὰ τοῦ πέραν τοῦ Ἰορ-
δάνου ist schwerlich etwas Anderes, als die Art, wie er
sich den schwerverständlichen Ausdruck des Matthäus,
dem er in diesem Abschnitt folgt, erklären zu dürfen glaub-
te. Was dieser mit seinem μετῇρεν ἀπὸ τῆς Γαλιλαίας καὶ
ἦλϑεν εἰς τὰ ὅρια τῆς Ἰουδαίας πέραν τοῦἸορδάνου eigentlich
sagen will, ist in der That dunkel. Denn wenn die Er-
klärung: er kam in den Theil von Judäa, welcher jenseits
des Jordans liegt 2), gleicherweise gegen Geographie wie
17)
1) Schleiermacher, über den Lukas, S. 160.
2) Kuinöl und Gratz z. d. St.
17) vereinigte: wie mit Jesu der Gesezgeber und der Prophet
sich unterreden, die beiden Säulen des A. T.lichen Lebens,
welche Jesus in höherer Weise in sich zusammenschloss;
wie bei Plato endlich auch Agathon und Aristophanes ein-
schlafen, und Sokrates allein das Feld behält: so verschwin-
den im Evangelium Moses und Elias zulezt, und die Jünger
sehen nur noch Jesum allein.
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