jener engherzige Tadel edler Freigebigkeit könne nur von dem habsüchtigen Judas ausgegangen sein? Dass der Tadel zugleich auf Verkaufen der Salbe zum Besten der Armen drang, konnte im Munde des Judas nur ein Vorwand ge- wesen sein, hinter welchem sich sein Eigennuz versteckte: eignen Vortheil aber konnte er von dem Verkauf jener Sal- be nur dann erwarten, wenn er sich erlaubte, von dem er- lösten Gelde etwas zu unterschlagen, und diess konnte er wiederum nur, wenn er Cassenführer war. Zeigt sich so auch von dem Zuge, dass Judas kleptes en kai to glos-- sokomon eikhe, eine unhistorische Entstehung als möglich: so ist nun zu untersuchen, ob sich Gründe zu der Annahme finden, dass es sich wirklich so verhalte?
Hier muss ein andrer Punkt hinzugenommen werden, in welchem die Synoptiker und Johannes differiren, näm- lich das Vorherwissen Jesu von des Judas Verrätherei. Bei den Synoptikern zeigt Jesus diese Kunde erst am lez- ten Mahle, also zu einer Zeit, wo die That des Judas ei- gentlich schon geschehen war, und noch kurz vorher, wie es scheint, ahnte Jesus noch so wenig davon, dass einer der Zwölfe ihm verloren gehen würde, dass er ihnen al- len, wie sie da waren, bei der Palingenesie ein Sitzen auf 12 Richterstühlen verhiess (Matth. 19, 28.). Nach Johan- nes dagegen versichert Jesus schon um die Zeit des vor- lezten Pascha, also ein Jahr vor dem Erfolg, einer von den Zwölfen sei ein diabolos, womit er, laut der Be- merkung des Evangelisten, den Judas, als seinen künf- tigen Verräther, meinte (6, 70.); denn, wie kurz vorher (V. 64.) bemerkt war, edei ex arkhes o Iesous, -- tis esin o paradoson auton. Hienach hätte also Jesus von Anfang seiner Bekanntschaft mit dem Judas gewusst, dass dieser ihn verrathen würde, und nicht bloss diesen äussern Erfolg hätte er vorhergesehen, sondern, da er ja wusste, was im Menschen war (Joh. 2, 25.), so hätte er auch die Triebfe- dern des Judas durchschaut, dass er nämlich aus Habsucht
Dritter Abschnitt.
jener engherzige Tadel edler Freigebigkeit könne nur von dem habsüchtigen Judas ausgegangen sein? Daſs der Tadel zugleich auf Verkaufen der Salbe zum Besten der Armen drang, konnte im Munde des Judas nur ein Vorwand ge- wesen sein, hinter welchem sich sein Eigennuz versteckte: eignen Vortheil aber konnte er von dem Verkauf jener Sal- be nur dann erwarten, wenn er sich erlaubte, von dem er- lösten Gelde etwas zu unterschlagen, und dieſs konnte er wiederum nur, wenn er Cassenführer war. Zeigt sich so auch von dem Zuge, daſs Judas κλέπτης ἦν καὶ τὸ γλωσ— σόκομον εἶχε, eine unhistorische Entstehung als möglich: so ist nun zu untersuchen, ob sich Gründe zu der Annahme finden, daſs es sich wirklich so verhalte?
Hier muſs ein andrer Punkt hinzugenommen werden, in welchem die Synoptiker und Johannes differiren, näm- lich das Vorherwissen Jesu von des Judas Verrätherei. Bei den Synoptikern zeigt Jesus diese Kunde erst am lez- ten Mahle, also zu einer Zeit, wo die That des Judas ei- gentlich schon geschehen war, und noch kurz vorher, wie es scheint, ahnte Jesus noch so wenig davon, daſs einer der Zwölfe ihm verloren gehen würde, daſs er ihnen al- len, wie sie da waren, bei der Palingenesie ein Sitzen auf 12 Richterstühlen verhieſs (Matth. 19, 28.). Nach Johan- nes dagegen versichert Jesus schon um die Zeit des vor- lezten Pascha, also ein Jahr vor dem Erfolg, einer von den Zwölfen sei ein διάβολος, womit er, laut der Be- merkung des Evangelisten, den Judas, als seinen künf- tigen Verräther, meinte (6, 70.); denn, wie kurz vorher (V. 64.) bemerkt war, ᾔδει ἐξ ἀρχῆς ὁ Ἰησοῦς, — τίς ἐςιν ὁ παραδώσων αὐτόν. Hienach hätte also Jesus von Anfang seiner Bekanntschaft mit dem Judas gewuſst, daſs dieser ihn verrathen würde, und nicht bloſs diesen äussern Erfolg hätte er vorhergesehen, sondern, da er ja wuſste, was im Menschen war (Joh. 2, 25.), so hätte er auch die Triebfe- dern des Judas durchschaut, daſs er nämlich aus Habsucht
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Dritter Abschnitt.
jener engherzige Tadel edler Freigebigkeit könne nur von
dem habsüchtigen Judas ausgegangen sein? Daſs der Tadel
zugleich auf Verkaufen der Salbe zum Besten der Armen
drang, konnte im Munde des Judas nur ein Vorwand ge-
wesen sein, hinter welchem sich sein Eigennuz versteckte:
eignen Vortheil aber konnte er von dem Verkauf jener Sal-
be nur dann erwarten, wenn er sich erlaubte, von dem er-
lösten Gelde etwas zu unterschlagen, und dieſs konnte er
wiederum nur, wenn er Cassenführer war. Zeigt sich so
auch von dem Zuge, daſs Judas κλέπτης ἦν καὶ τὸ γλωσ—
σόκομον εἶχε, eine unhistorische Entstehung als möglich: so
ist nun zu untersuchen, ob sich Gründe zu der Annahme
finden, daſs es sich wirklich so verhalte?
Hier muſs ein andrer Punkt hinzugenommen werden,
in welchem die Synoptiker und Johannes differiren, näm-
lich das Vorherwissen Jesu von des Judas Verrätherei.
Bei den Synoptikern zeigt Jesus diese Kunde erst am lez-
ten Mahle, also zu einer Zeit, wo die That des Judas ei-
gentlich schon geschehen war, und noch kurz vorher, wie
es scheint, ahnte Jesus noch so wenig davon, daſs einer
der Zwölfe ihm verloren gehen würde, daſs er ihnen al-
len, wie sie da waren, bei der Palingenesie ein Sitzen auf
12 Richterstühlen verhieſs (Matth. 19, 28.). Nach Johan-
nes dagegen versichert Jesus schon um die Zeit des vor-
lezten Pascha, also ein Jahr vor dem Erfolg, einer von
den Zwölfen sei ein διάβολος, womit er, laut der Be-
merkung des Evangelisten, den Judas, als seinen künf-
tigen Verräther, meinte (6, 70.); denn, wie kurz vorher
(V. 64.) bemerkt war, ᾔδει ἐξ ἀρχῆς ὁ Ἰησοῦς, — τίς ἐςιν
ὁ παραδώσων αὐτόν. Hienach hätte also Jesus von Anfang
seiner Bekanntschaft mit dem Judas gewuſst, daſs dieser
ihn verrathen würde, und nicht bloſs diesen äussern Erfolg
hätte er vorhergesehen, sondern, da er ja wuſste, was im
Menschen war (Joh. 2, 25.), so hätte er auch die Triebfe-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/403>, abgerufen am 22.11.2024.
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