Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Dritter Abschnitt. die von der orthodoxen Ansicht seiner Meinung nach zusehr vergötterten biblischen Personen ihres Nimbus zu ent- kleiden, so die in eben dieser Ansicht verdammten oder zurückgesetzten zu vertheidigen und zu heben. Daher, was das A. T. betrifft, die Erhebung Esau's über Jakob, Saul's über Samuel; im neuen der Martha über die Maria, die Lobreden auf den zweifelnden Thomas, und nun sogar die Apologie des Verräthers Judas. Den Einen war er ein Verbrecher aus beleidigter Ehre: die Art, wie Jesus ihn bei der Bethanischen Mahlzeit gezüchtigt, die Zurücksezung überhaupt, die er im Vergleich mit andern Jüngern erfuhr, verwandelte seine Liebe zu dem Lehrer in Hass und Rach- gier 3). Andere haben sich mehr der von Theophylakt auf- behaltenen Vermuthung angeschlossen, dass Judas gehofft haben möge, Jesus werde auch diessmal seinen Feinden entgehen. Diess fassten die Einen noch supranaturalistisch so, als hätte Judas erwartet, Jesus werde sich durch An- wendung seiner Wunderkraft in Freiheit setzen 4); conse- quenter auf ihrem Standpunkt muthmassten Andere, Judas möge wohl erwartet haben, wenn Jesus gefangen wäre, werde ein Volksaufstand zu seinen Gunsten ausbrechen und ihn befreien 5). Judas wird hienach als ein solcher vor- gestellt, der, darin übrigens den andern Jüngern gleich, das Messiasreich irdisch und politisch sich dachte, und daher unzufrieden war, dass Jesus die Gunst des Volks so lange nicht benüzte, um sich zum messianischen Herrscher aufzuwerfen. Veranlasst nun entweder durch Bestechungs- 3) Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 249. Ähnlich auch Klopstock im Messias. 4) K. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1. Thl. 2ter Versuch, S. 18 ff.; vgl. denselben in Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S. 163 ff. 5) Paulus, ex Hdb. 3, b, S. 451 ff. L. J. 1, b, S. 143 ff. Hase,
L. J. §. 132. Dritter Abschnitt. die von der orthodoxen Ansicht seiner Meinung nach zusehr vergötterten biblischen Personen ihres Nimbus zu ent- kleiden, so die in eben dieser Ansicht verdammten oder zurückgesetzten zu vertheidigen und zu heben. Daher, was das A. T. betrifft, die Erhebung Esau's über Jakob, Saul's über Samuel; im neuen der Martha über die Maria, die Lobreden auf den zweifelnden Thomas, und nun sogar die Apologie des Verräthers Judas. Den Einen war er ein Verbrecher aus beleidigter Ehre: die Art, wie Jesus ihn bei der Bethanischen Mahlzeit gezüchtigt, die Zurücksezung überhaupt, die er im Vergleich mit andern Jüngern erfuhr, verwandelte seine Liebe zu dem Lehrer in Haſs und Rach- gier 3). Andere haben sich mehr der von Theophylakt auf- behaltenen Vermuthung angeschlossen, daſs Judas gehofft haben möge, Jesus werde auch dieſsmal seinen Feinden entgehen. Dieſs faſsten die Einen noch supranaturalistisch so, als hätte Judas erwartet, Jesus werde sich durch An- wendung seiner Wunderkraft in Freiheit setzen 4); conse- quenter auf ihrem Standpunkt muthmaſsten Andere, Judas möge wohl erwartet haben, wenn Jesus gefangen wäre, werde ein Volksaufstand zu seinen Gunsten ausbrechen und ihn befreien 5). Judas wird hienach als ein solcher vor- gestellt, der, darin übrigens den andern Jüngern gleich, das Messiasreich irdisch und politisch sich dachte, und daher unzufrieden war, daſs Jesus die Gunst des Volks so lange nicht benüzte, um sich zum messianischen Herrscher aufzuwerfen. Veranlaſst nun entweder durch Bestechungs- 3) Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 249. Ähnlich auch Klopstock im Messias. 4) K. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1. Thl. 2ter Versuch, S. 18 ff.; vgl. denselben in Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S. 163 ff. 5) Paulus, ex Hdb. 3, b, S. 451 ff. L. J. 1, b, S. 143 ff. Hase,
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Dritter Abschnitt.
die von der orthodoxen Ansicht seiner Meinung nach zu
sehr vergötterten biblischen Personen ihres Nimbus zu ent-
kleiden, so die in eben dieser Ansicht verdammten oder
zurückgesetzten zu vertheidigen und zu heben. Daher, was
das A. T. betrifft, die Erhebung Esau's über Jakob, Saul's
über Samuel; im neuen der Martha über die Maria, die
Lobreden auf den zweifelnden Thomas, und nun sogar die
Apologie des Verräthers Judas. Den Einen war er ein
Verbrecher aus beleidigter Ehre: die Art, wie Jesus ihn
bei der Bethanischen Mahlzeit gezüchtigt, die Zurücksezung
überhaupt, die er im Vergleich mit andern Jüngern erfuhr,
verwandelte seine Liebe zu dem Lehrer in Haſs und Rach-
gier 3). Andere haben sich mehr der von Theophylakt auf-
behaltenen Vermuthung angeschlossen, daſs Judas gehofft
haben möge, Jesus werde auch dieſsmal seinen Feinden
entgehen. Dieſs faſsten die Einen noch supranaturalistisch
so, als hätte Judas erwartet, Jesus werde sich durch An-
wendung seiner Wunderkraft in Freiheit setzen 4); conse-
quenter auf ihrem Standpunkt muthmaſsten Andere, Judas
möge wohl erwartet haben, wenn Jesus gefangen wäre,
werde ein Volksaufstand zu seinen Gunsten ausbrechen und
ihn befreien 5). Judas wird hienach als ein solcher vor-
gestellt, der, darin übrigens den andern Jüngern gleich,
das Messiasreich irdisch und politisch sich dachte, und
daher unzufrieden war, daſs Jesus die Gunst des Volks so
lange nicht benüzte, um sich zum messianischen Herrscher
aufzuwerfen. Veranlaſst nun entweder durch Bestechungs-
3) Kaiser, bibl. Theol. 1, S. 249. Ähnlich auch Klopstock im
Messias.
4) K. Ch. L. Schmidt, exeg. Beiträge, 1. Thl. 2ter Versuch,
S. 18 ff.; vgl. denselben in Schmidt's Bibliothek, 3, 1, S.
163 ff.
5) Paulus, ex Hdb. 3, b, S. 451 ff. L. J. 1, b, S. 143 ff. Hase,
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