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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.

Man beruft sich zwar auf den Wechsel der Stimmun-
gen, welcher natürlich, je näher dem entscheidenden Mo-
ment, desto schneller werde 5); auf die Thatsache, dass
nicht selten im Leben gläubiger Personen eine plözliche
Entziehung der höheren Lebenskräfte, eine Gottverlassen-
heit, eintrete, welche den doch erfolgenden Sieg erst wahr-
haft gross und bewundernswerth mache 6). Allein diese
leztere Ansicht verräth ihren ungeistigen Ursprung aus ei-
nem imaginirenden Denken (welchem die Seele etwa wie
ein See erscheinen kann, der, je nachdem die zuführen-
den Kanäle verschlossen, oder deren Schleusen geöffnet
werden, ebbt oder fluthet) sogleich durch die Widersprü-
che, in welche sie nach allen Seiten sich verwickelt. Der
Sieg Christi über die Todesfurcht soll erst dadurch seine
rechte Bedeutung gewinnen, dass, während ein Sokrates
nur siegen konnte, indem er im vollen Besiz seiner gei-
stigen Kraftfülle blieb, Christus über die ganze Macht
der Finsterniss auch in der Verlassenheit von Gott und
der Fülle seines Geistes, durch seine blosse menschliche
psukhe, zu siegen im Stande war --: ist diess nicht der
roheste Pelagianismus, der grellste Widerspruch gegen
Kirchenlehre wie gegen gesunde Philosophie, welche glei-
cherweise darauf bestehen, dass ohne Gott der Mensch
nichts Gutes thun, nur durch seinen Harnisch die Pfeile
des Bösewichts zurückschlagen könne? Um diesem Wi-
derspruch gegen die Ergebnisse eines wirklichen Denkens
zu entgehen, muss jenes phantasirende Denken einen Wi-
derspruch mit sich selbst hinzufügen, sofern nun in dem
stärkenden Engel (welcher beiläufig auch gegen allen Wort-
verstand der Stelle zu einer bloss innerlichen Erscheinung,
die Jesus hatte, umgedeutet wird) dem in der höchsten
Verlassenheit ringenden Jesu ein Zufluss geistiger Kräfte

5) Lücke, 2, S. 592 ff.
6) Olshausen, 2, S. 429 f.
Dritter Abschnitt.

Man beruft sich zwar auf den Wechsel der Stimmun-
gen, welcher natürlich, je näher dem entscheidenden Mo-
ment, desto schneller werde 5); auf die Thatsache, daſs
nicht selten im Leben gläubiger Personen eine plözliche
Entziehung der höheren Lebenskräfte, eine Gottverlassen-
heit, eintrete, welche den doch erfolgenden Sieg erst wahr-
haft groſs und bewundernswerth mache 6). Allein diese
leztere Ansicht verräth ihren ungeistigen Ursprung aus ei-
nem imaginirenden Denken (welchem die Seele etwa wie
ein See erscheinen kann, der, je nachdem die zuführen-
den Kanäle verschlossen, oder deren Schleusen geöffnet
werden, ebbt oder fluthet) sogleich durch die Widersprü-
che, in welche sie nach allen Seiten sich verwickelt. Der
Sieg Christi über die Todesfurcht soll erst dadurch seine
rechte Bedeutung gewinnen, daſs, während ein Sokrates
nur siegen konnte, indem er im vollen Besiz seiner gei-
stigen Kraftfülle blieb, Christus über die ganze Macht
der Finsterniſs auch in der Verlassenheit von Gott und
der Fülle seines Geistes, durch seine bloſse menschliche
ψυχὴ, zu siegen im Stande war —: ist dieſs nicht der
roheste Pelagianismus, der grellste Widerspruch gegen
Kirchenlehre wie gegen gesunde Philosophie, welche glei-
cherweise darauf bestehen, daſs ohne Gott der Mensch
nichts Gutes thun, nur durch seinen Harnisch die Pfeile
des Bösewichts zurückschlagen könne? Um diesem Wi-
derspruch gegen die Ergebnisse eines wirklichen Denkens
zu entgehen, muſs jenes phantasirende Denken einen Wi-
derspruch mit sich selbst hinzufügen, sofern nun in dem
stärkenden Engel (welcher beiläufig auch gegen allen Wort-
verstand der Stelle zu einer bloſs innerlichen Erscheinung,
die Jesus hatte, umgedeutet wird) dem in der höchsten
Verlassenheit ringenden Jesu ein Zufluſs geistiger Kräfte

5) Lücke, 2, S. 592 ff.
6) Olshausen, 2, S. 429 f.
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[458/0477] Dritter Abschnitt. Man beruft sich zwar auf den Wechsel der Stimmun- gen, welcher natürlich, je näher dem entscheidenden Mo- ment, desto schneller werde 5); auf die Thatsache, daſs nicht selten im Leben gläubiger Personen eine plözliche Entziehung der höheren Lebenskräfte, eine Gottverlassen- heit, eintrete, welche den doch erfolgenden Sieg erst wahr- haft groſs und bewundernswerth mache 6). Allein diese leztere Ansicht verräth ihren ungeistigen Ursprung aus ei- nem imaginirenden Denken (welchem die Seele etwa wie ein See erscheinen kann, der, je nachdem die zuführen- den Kanäle verschlossen, oder deren Schleusen geöffnet werden, ebbt oder fluthet) sogleich durch die Widersprü- che, in welche sie nach allen Seiten sich verwickelt. Der Sieg Christi über die Todesfurcht soll erst dadurch seine rechte Bedeutung gewinnen, daſs, während ein Sokrates nur siegen konnte, indem er im vollen Besiz seiner gei- stigen Kraftfülle blieb, Christus über die ganze Macht der Finsterniſs auch in der Verlassenheit von Gott und der Fülle seines Geistes, durch seine bloſse menschliche ψυχὴ, zu siegen im Stande war —: ist dieſs nicht der roheste Pelagianismus, der grellste Widerspruch gegen Kirchenlehre wie gegen gesunde Philosophie, welche glei- cherweise darauf bestehen, daſs ohne Gott der Mensch nichts Gutes thun, nur durch seinen Harnisch die Pfeile des Bösewichts zurückschlagen könne? Um diesem Wi- derspruch gegen die Ergebnisse eines wirklichen Denkens zu entgehen, muſs jenes phantasirende Denken einen Wi- derspruch mit sich selbst hinzufügen, sofern nun in dem stärkenden Engel (welcher beiläufig auch gegen allen Wort- verstand der Stelle zu einer bloſs innerlichen Erscheinung, die Jesus hatte, umgedeutet wird) dem in der höchsten Verlassenheit ringenden Jesu ein Zufluſs geistiger Kräfte 5) Lücke, 2, S. 592 ff. 6) Olshausen, 2, S. 429 f.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/477>, abgerufen am 22.11.2024.