Schleiermacher'schen Dogmatik erklärlich finden, in wel- cher der Begriff der Unsündlichkeit Christi auf eine Weise gespannt wird, die selbst das Kleinste von Kampf aus- schliesst; denn dass, abgesehen von solchen Voraussetzun- gen, die johanneische Darstellung der lezten Stunden Jesu eine natürlichere und sachgemässere wäre, möchte schwer nachzuweisen sein. Eher könnte umgekehrt Bretschneider recht zu haben scheinen, wenn er für die Synoptiker die grössere Natürlichkeit und innere Wahrheit der Schilde- rung in Anspruch nimmt 8): wenn nur nicht die Art, wie ihm an den von Johannes in diesen Zeitpunkt gestellten Reden hauptsächlich das Dogmatische und Metaphysische zuwider ist, an den Ursprung seiner ganzen Polemik ge- gen den Johannes aus dem Widerwillen seiner kritischen Reflexionsphilosophie gegen den speculativen Gehalt des vierten Evangeliums erinnerte.
Ganz übrigens hat, wie auch die Probabilien bemer- ken, Johannes die Beängstigung Jesu in Bezug auf seinen bevorstehenden Tod nicht übergangen, nur dass er sie schon an einer früheren Stelle, Joh. 12, 27 ff., eingefügt hat. Bei aller Verschiedenheit der Verhältnisse (da die von Johannes beschriebene Scene unmittelbar nach dem Einzug Jesu in Jerusalem vorgeht, als ihn mitten unter der Menge einige zum Fest gekommene Hellenen, ohne Zweifel Proselyten des Thors, zu sprechen wünschten) und des Hergangs selbst, findet doch zwischen diesem Vorfall und dem, welchen die Synoptiker in den lezten Abend des Lebens Jesu und in die Einsamkeit des Gartens versetzen, eine auffallende Übereinstimmung statt. Wie Jesus hier seinen Jüngern erklärt: perilupos esin e psukhe mou eos tha-
8) Probab. p. 33 ff. In einer etwaigen dritten Ausgabe möge doch Olshausen endlich den Verf. der Probabilien aus der Reihe derer wegstreichen, welche die synoptische Erzählung vom Kampf in Gethsemane mit Rücksicht auf das Stillschwei- gen des Augenzeugen Johannes für irrig halten (2, S. 428.)!
Drittes Kapitel. §. 122.
Schleiermacher'schen Dogmatik erklärlich finden, in wel- cher der Begriff der Unsündlichkeit Christi auf eine Weise gespannt wird, die selbst das Kleinste von Kampf aus- schlieſst; denn daſs, abgesehen von solchen Voraussetzun- gen, die johanneische Darstellung der lezten Stunden Jesu eine natürlichere und sachgemäſsere wäre, möchte schwer nachzuweisen sein. Eher könnte umgekehrt Bretschneider recht zu haben scheinen, wenn er für die Synoptiker die gröſsere Natürlichkeit und innere Wahrheit der Schilde- rung in Anspruch nimmt 8): wenn nur nicht die Art, wie ihm an den von Johannes in diesen Zeitpunkt gestellten Reden hauptsächlich das Dogmatische und Metaphysische zuwider ist, an den Ursprung seiner ganzen Polemik ge- gen den Johannes aus dem Widerwillen seiner kritischen Reflexionsphilosophie gegen den speculativen Gehalt des vierten Evangeliums erinnerte.
Ganz übrigens hat, wie auch die Probabilien bemer- ken, Johannes die Beängstigung Jesu in Bezug auf seinen bevorstehenden Tod nicht übergangen, nur daſs er sie schon an einer früheren Stelle, Joh. 12, 27 ff., eingefügt hat. Bei aller Verschiedenheit der Verhältnisse (da die von Johannes beschriebene Scene unmittelbar nach dem Einzug Jesu in Jerusalem vorgeht, als ihn mitten unter der Menge einige zum Fest gekommene Hellenen, ohne Zweifel Proselyten des Thors, zu sprechen wünschten) und des Hergangs selbst, findet doch zwischen diesem Vorfall und dem, welchen die Synoptiker in den lezten Abend des Lebens Jesu und in die Einsamkeit des Gartens versetzen, eine auffallende Übereinstimmung statt. Wie Jesus hier seinen Jüngern erklärt: περίλυπός ἐςιν ἡ ψυχή μου ἕως ϑα-
8) Probab. p. 33 ff. In einer etwaigen dritten Ausgabe möge doch Olshausen endlich den Verf. der Probabilien aus der Reihe derer wegstreichen, welche die synoptische Erzählung vom Kampf in Gethsemane mit Rücksicht auf das Stillschwei- gen des Augenzeugen Johannes für irrig halten (2, S. 428.)!
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Drittes Kapitel. §. 122.
Schleiermacher'schen Dogmatik erklärlich finden, in wel-
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gespannt wird, die selbst das Kleinste von Kampf aus-
schlieſst; denn daſs, abgesehen von solchen Voraussetzun-
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eine natürlichere und sachgemäſsere wäre, möchte schwer
nachzuweisen sein. Eher könnte umgekehrt Bretschneider
recht zu haben scheinen, wenn er für die Synoptiker die
gröſsere Natürlichkeit und innere Wahrheit der Schilde-
rung in Anspruch nimmt 8): wenn nur nicht die Art, wie
ihm an den von Johannes in diesen Zeitpunkt gestellten
Reden hauptsächlich das Dogmatische und Metaphysische
zuwider ist, an den Ursprung seiner ganzen Polemik ge-
gen den Johannes aus dem Widerwillen seiner kritischen
Reflexionsphilosophie gegen den speculativen Gehalt des
vierten Evangeliums erinnerte.
Ganz übrigens hat, wie auch die Probabilien bemer-
ken, Johannes die Beängstigung Jesu in Bezug auf seinen
bevorstehenden Tod nicht übergangen, nur daſs er sie
schon an einer früheren Stelle, Joh. 12, 27 ff., eingefügt
hat. Bei aller Verschiedenheit der Verhältnisse (da die
von Johannes beschriebene Scene unmittelbar nach dem
Einzug Jesu in Jerusalem vorgeht, als ihn mitten unter
der Menge einige zum Fest gekommene Hellenen, ohne
Zweifel Proselyten des Thors, zu sprechen wünschten) und
des Hergangs selbst, findet doch zwischen diesem Vorfall
und dem, welchen die Synoptiker in den lezten Abend des
Lebens Jesu und in die Einsamkeit des Gartens versetzen,
eine auffallende Übereinstimmung statt. Wie Jesus hier
seinen Jüngern erklärt: περίλυπός ἐςιν ἡ ψυχή μου ἕως ϑα-
8) Probab. p. 33 ff. In einer etwaigen dritten Ausgabe möge
doch Olshausen endlich den Verf. der Probabilien aus der
Reihe derer wegstreichen, welche die synoptische Erzählung
vom Kampf in Gethsemane mit Rücksicht auf das Stillschwei-
gen des Augenzeugen Johannes für irrig halten (2, S. 428.)!
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/480>, abgerufen am 22.11.2024.
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