welchem man doch, des möglichen Missverständnisses we- gen, stärkere Gemüthsbewegungen in sich verschliesst.
Weit eher wird man daher der Ansicht Theile's zustim- men können, dass der Verfasser des vierten Evangeliums die von den Synoptikern richtig eingefügte Begebenheit an einen falschen Ort gestellt habe 10). Da Jesus zur Einlei- tung einer Antwort an die Hellenen, welche den durch den Einzug Verherrlichten sprechen wollten, gesagt hatte: ja, die Stunde meiner Verherrlichung ist da, aber der Ver- herrlichung durch den Tod (12, 23. f.): so habe diess den Erzähler verleitet, statt die wirkliche Antwort Jesu an die Hellenen sammt dem weiteren Verfolg anzugeben, vielmehr Jesum sich ausführlich über die innere Nothwendigkeit sei- nes Todes verbreiten zu lassen, wo er dann fast unbewusst auch die Schilderung des inneren Kampfs, den Jesus rück- sichtlich seiner freiwilligen Aufopferung zu bestehen hatte, eingeflochten habe, welchen er desswegen später, an sei- ner eigentlichen Stelle, übergehe. Eigen ist hiebei nur, dass Theile der Meinung ist, eine solche Umstellung habe dem Apostel Johannes selbst begegnen können. Dass sich ihm der Vorgang in Gethsemane, da er während desselben schlaftrunken gewesen, nicht tief eingeprägt habe, und dass derselbe überdem durch den schnell darauf erfolgten Kreuzestod in den Hintergrund seines Bewusstseins gerückt worden sei, dadurch könnte man etwa erklärt finden, wenn er ihn ganz übergangen, oder nur summarisch dar- gestellt hätte, keineswegs aber, dass er ihn an unrechter Stelle eingefügt hat. So viel musste er doch, wenn er un- erachtet seiner damaligen Schläfrigkeit von dem Vorgang Notiz genommen hatte, behalten, dass jene eigenthümliche Stimmung Jesum hart vor dem Anfang seines Leidens, und in Nacht und Einsamkeit befallen habe: wie konnte er je-
10) s. die Recens. von Usteri's Comment. crit., in Winer's und Engelhardt's n. kr. Journal, 2, S. 359 ff.
Dritter Abschnitt.
welchem man doch, des möglichen Miſsverständnisses we- gen, stärkere Gemüthsbewegungen in sich verschlieſst.
Weit eher wird man daher der Ansicht Theile's zustim- men können, daſs der Verfasser des vierten Evangeliums die von den Synoptikern richtig eingefügte Begebenheit an einen falschen Ort gestellt habe 10). Da Jesus zur Einlei- tung einer Antwort an die Hellenen, welche den durch den Einzug Verherrlichten sprechen wollten, gesagt hatte: ja, die Stunde meiner Verherrlichung ist da, aber der Ver- herrlichung durch den Tod (12, 23. f.): so habe dieſs den Erzähler verleitet, statt die wirkliche Antwort Jesu an die Hellenen sammt dem weiteren Verfolg anzugeben, vielmehr Jesum sich ausführlich über die innere Nothwendigkeit sei- nes Todes verbreiten zu lassen, wo er dann fast unbewuſst auch die Schilderung des inneren Kampfs, den Jesus rück- sichtlich seiner freiwilligen Aufopferung zu bestehen hatte, eingeflochten habe, welchen er deſswegen später, an sei- ner eigentlichen Stelle, übergehe. Eigen ist hiebei nur, daſs Theile der Meinung ist, eine solche Umstellung habe dem Apostel Johannes selbst begegnen können. Daſs sich ihm der Vorgang in Gethsemane, da er während desselben schlaftrunken gewesen, nicht tief eingeprägt habe, und daſs derselbe überdem durch den schnell darauf erfolgten Kreuzestod in den Hintergrund seines Bewuſstseins gerückt worden sei, dadurch könnte man etwa erklärt finden, wenn er ihn ganz übergangen, oder nur summarisch dar- gestellt hätte, keineswegs aber, daſs er ihn an unrechter Stelle eingefügt hat. So viel muſste er doch, wenn er un- erachtet seiner damaligen Schläfrigkeit von dem Vorgang Notiz genommen hatte, behalten, daſs jene eigenthümliche Stimmung Jesum hart vor dem Anfang seines Leidens, und in Nacht und Einsamkeit befallen habe: wie konnte er je-
10) s. die Recens. von Usteri's Comment. crit., in Winer's und Engelhardt's n. kr. Journal, 2, S. 359 ff.
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Dritter Abschnitt.
welchem man doch, des möglichen Miſsverständnisses we-
gen, stärkere Gemüthsbewegungen in sich verschlieſst.
Weit eher wird man daher der Ansicht Theile's zustim-
men können, daſs der Verfasser des vierten Evangeliums
die von den Synoptikern richtig eingefügte Begebenheit an
einen falschen Ort gestellt habe 10). Da Jesus zur Einlei-
tung einer Antwort an die Hellenen, welche den durch
den Einzug Verherrlichten sprechen wollten, gesagt hatte:
ja, die Stunde meiner Verherrlichung ist da, aber der Ver-
herrlichung durch den Tod (12, 23. f.): so habe dieſs den
Erzähler verleitet, statt die wirkliche Antwort Jesu an die
Hellenen sammt dem weiteren Verfolg anzugeben, vielmehr
Jesum sich ausführlich über die innere Nothwendigkeit sei-
nes Todes verbreiten zu lassen, wo er dann fast unbewuſst
auch die Schilderung des inneren Kampfs, den Jesus rück-
sichtlich seiner freiwilligen Aufopferung zu bestehen hatte,
eingeflochten habe, welchen er deſswegen später, an sei-
ner eigentlichen Stelle, übergehe. Eigen ist hiebei nur,
daſs Theile der Meinung ist, eine solche Umstellung habe
dem Apostel Johannes selbst begegnen können. Daſs sich
ihm der Vorgang in Gethsemane, da er während desselben
schlaftrunken gewesen, nicht tief eingeprägt habe, und
daſs derselbe überdem durch den schnell darauf erfolgten
Kreuzestod in den Hintergrund seines Bewuſstseins gerückt
worden sei, dadurch könnte man etwa erklärt finden,
wenn er ihn ganz übergangen, oder nur summarisch dar-
gestellt hätte, keineswegs aber, daſs er ihn an unrechter
Stelle eingefügt hat. So viel muſste er doch, wenn er un-
erachtet seiner damaligen Schläfrigkeit von dem Vorgang
Notiz genommen hatte, behalten, daſs jene eigenthümliche
Stimmung Jesum hart vor dem Anfang seines Leidens, und
in Nacht und Einsamkeit befallen habe: wie konnte er je-
10) s. die Recens. von Usteri's Comment. crit., in Winer's und
Engelhardt's n. kr. Journal, 2, S. 359 ff.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/483>, abgerufen am 22.11.2024.
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