Vermuthung offen bleiben muss, die Anekdote sei aus dem Bestreben entstanden, Jesum vor alle möglicherweise in Je- rusalem zusammenzubringende Richterstühle zu stellen, von allen nicht hierarchischen Behörden ihn zwar verächtlich be- handelt, aber doch seine Unschuld laut oder stillschweigend anerkannt werden, ihn selbst aber vor allen seine gleich- mässige Haltung und Würde behaupten zu lassen. Wäre diess von der vorliegenden Erzählung, mit welcher der drit- te Evangelist allein steht, anzunehmen: so würde sich eine ähnliche Vermuthung auch für das Verhör vor Annas er- geben, mit welchem wir den vierten Evangelisten allein- stehend gefunden haben.
Nachdem er Jesum von Herodes zurückgesandt be- kommen hatte, berief nun dem Lukas zufolge Pilatus die Synedristen und das Volk wieder zu sich, und erklärte, auf das mit dem seinigen übereinstimmende Urtheil des Herodes gestüzt, Jesum mit einer Züchtigung loslassen zu wollen, wozu er die Sitte, am Paschafest einen Gefange- nen frei zu lassen 10), benützen konnte. Dieser bei Lu- kas etwas verkürzte Umstand tritt bei den übrigen, na- mentlich bei Matthäus, deutlicher heraus. Da nämlich die Befugniss, sich einen Gefangenen loszubitten, dem okhlos zukam: so suchte Pilatus, wohl wissend, dass nur der Neid der Grossen Jesum verfolgte, die bessere Stimmung des Volks für ihn zu benützen, und um dasselbe zur Be- freiung Jesu eigentlich zu nöthigen, stellte er ihn, den er, zum Theil zwar aus Spott gegen die Juden, zum Theil aber um sie von seiner Hinrichtung, als für sie selbst schimpf- lich, abzubringen, Messias oder Judenkönig nannte, zur
10) Man zweifelt, ob diese Sitte, von welcher wir ohne das N. T. nichts wissen würden, römischen oder jüdischen Ur- sprungs war; vgl. Fritzsche und Paulus z. d. St. Baur, über die ursprüngliche Bedeutung des Passahfestes u. s. f. Tüb. Zeitschr. f. Theol. 1832, 1, S. 94.
Drittes Kapitel. §. 127.
Vermuthung offen bleiben muſs, die Anekdote sei aus dem Bestreben entstanden, Jesum vor alle möglicherweise in Je- rusalem zusammenzubringende Richterstühle zu stellen, von allen nicht hierarchischen Behörden ihn zwar verächtlich be- handelt, aber doch seine Unschuld laut oder stillschweigend anerkannt werden, ihn selbst aber vor allen seine gleich- mäſsige Haltung und Würde behaupten zu lassen. Wäre dieſs von der vorliegenden Erzählung, mit welcher der drit- te Evangelist allein steht, anzunehmen: so würde sich eine ähnliche Vermuthung auch für das Verhör vor Annas er- geben, mit welchem wir den vierten Evangelisten allein- stehend gefunden haben.
Nachdem er Jesum von Herodes zurückgesandt be- kommen hatte, berief nun dem Lukas zufolge Pilatus die Synedristen und das Volk wieder zu sich, und erklärte, auf das mit dem seinigen übereinstimmende Urtheil des Herodes gestüzt, Jesum mit einer Züchtigung loslassen zu wollen, wozu er die Sitte, am Paschafest einen Gefange- nen frei zu lassen 10), benützen konnte. Dieser bei Lu- kas etwas verkürzte Umstand tritt bei den übrigen, na- mentlich bei Matthäus, deutlicher heraus. Da nämlich die Befugniſs, sich einen Gefangenen loszubitten, dem ὄχλος zukam: so suchte Pilatus, wohl wissend, daſs nur der Neid der Groſsen Jesum verfolgte, die bessere Stimmung des Volks für ihn zu benützen, und um dasselbe zur Be- freiung Jesu eigentlich zu nöthigen, stellte er ihn, den er, zum Theil zwar aus Spott gegen die Juden, zum Theil aber um sie von seiner Hinrichtung, als für sie selbst schimpf- lich, abzubringen, Messias oder Judenkönig nannte, zur
10) Man zweifelt, ob diese Sitte, von welcher wir ohne das N. T. nichts wissen würden, römischen oder jüdischen Ur- sprungs war; vgl. Fritzsche und Paulus z. d. St. Baur, über die ursprüngliche Bedeutung des Passahfestes u. s. f. Tüb. Zeitschr. f. Theol. 1832, 1, S. 94.
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Drittes Kapitel. §. 127.
Vermuthung offen bleiben muſs, die Anekdote sei aus dem
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rusalem zusammenzubringende Richterstühle zu stellen, von
allen nicht hierarchischen Behörden ihn zwar verächtlich be-
handelt, aber doch seine Unschuld laut oder stillschweigend
anerkannt werden, ihn selbst aber vor allen seine gleich-
mäſsige Haltung und Würde behaupten zu lassen. Wäre
dieſs von der vorliegenden Erzählung, mit welcher der drit-
te Evangelist allein steht, anzunehmen: so würde sich eine
ähnliche Vermuthung auch für das Verhör vor Annas er-
geben, mit welchem wir den vierten Evangelisten allein-
stehend gefunden haben.
Nachdem er Jesum von Herodes zurückgesandt be-
kommen hatte, berief nun dem Lukas zufolge Pilatus die
Synedristen und das Volk wieder zu sich, und erklärte,
auf das mit dem seinigen übereinstimmende Urtheil des
Herodes gestüzt, Jesum mit einer Züchtigung loslassen zu
wollen, wozu er die Sitte, am Paschafest einen Gefange-
nen frei zu lassen 10), benützen konnte. Dieser bei Lu-
kas etwas verkürzte Umstand tritt bei den übrigen, na-
mentlich bei Matthäus, deutlicher heraus. Da nämlich die
Befugniſs, sich einen Gefangenen loszubitten, dem ὄχλος
zukam: so suchte Pilatus, wohl wissend, daſs nur der
Neid der Groſsen Jesum verfolgte, die bessere Stimmung
des Volks für ihn zu benützen, und um dasselbe zur Be-
freiung Jesu eigentlich zu nöthigen, stellte er ihn, den er,
zum Theil zwar aus Spott gegen die Juden, zum Theil
aber um sie von seiner Hinrichtung, als für sie selbst schimpf-
lich, abzubringen, Messias oder Judenkönig nannte, zur
10) Man zweifelt, ob diese Sitte, von welcher wir ohne das
N. T. nichts wissen würden, römischen oder jüdischen Ur-
sprungs war; vgl. Fritzsche und Paulus z. d. St. Baur,
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Tüb. Zeitschr. f. Theol. 1832, 1, S. 94.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/538>, abgerufen am 22.11.2024.
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