Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Drittes Kapitel. §. 128. merken, dass die Synoptiker gerade am Schluss der Kreu-zes- und Todesscene, unmittelbar vor der Kreuzabnahme, jener Stellung der Angehörigen Jesu gedenken, also vor- aussetzen, dass sie dieselbe bis zum Ende der Scene ein- genommen haben, was wir der furchtsamen Stimmung der Jünger in jenen Tagen, und namentlich der weiblichen Schüchternheit, ganz angemessen finden müssen. Könnte man zwar von der mütterlichen Zärtlichkeit vielleicht den Heroismus eines näheren Hinzutretens erwarten: so macht dagegen das völlige Schweigen der Synoptiker, als der In- terpreten der gewöhnlichen evangelischen Tradition, die historische Realität jenes Zuges zweifelhaft. Die Synopti- ker können weder von der Anwesenheit der Mutter Jesu bei'm Kreuz etwas gewusst haben: sonst würden sie vor allen andern Frauen sie als die Hauptperson namhaft ma- chen; noch scheint von einem engeren Verhältniss dersel- ben zu Johannes etwas bekannt gewesen zu sein: wenig- stens lässt die Apostelgeschichte (1, 13 f.) die Mutter Jesu mit den Zwölfen überhaupt, seinen Brüdern und den Frauen zusammensein. Wie aber die Kunde von jener rüh- renden Gegenwart und diesem merkwürdigen Verhältniss verloren gehen konnte, begreift sich wenigstens nicht so leicht, als wie sie in dem Kreise, aus welchem das vierte Evangelium hervorgegangen ist, hat entstehen können. Müssen wir uns nach früher erwogenen Spuren diesen Kreis als einen solchen denken, in welchem der Apostel Johannes besondere Verehrung genoss, wesswegen ihn denn unser Evangelium aus der Dreizahl der genaueren Ver- trauten Jesu heraushebt, und allein zum Lieblingsjünger macht: so konnte zur Besiegelung dieses Verhältnisses nichts Schlagenderes gefunden werden, als die Angabe, dass Jesus die theuerste Hinterlassenschaft, seine Mutter (in Beziehung auf welche, wie auf den angeblichen Lieblings- jünger, ohnehin die Frage nahe lag, ob sie denn in dieser lezten Noth von der Seite Jesu gewichen seien?), dem Jo- 35 *
Drittes Kapitel. §. 128. merken, daſs die Synoptiker gerade am Schluſs der Kreu-zes- und Todesscene, unmittelbar vor der Kreuzabnahme, jener Stellung der Angehörigen Jesu gedenken, also vor- aussetzen, daſs sie dieselbe bis zum Ende der Scene ein- genommen haben, was wir der furchtsamen Stimmung der Jünger in jenen Tagen, und namentlich der weiblichen Schüchternheit, ganz angemessen finden müssen. Könnte man zwar von der mütterlichen Zärtlichkeit vielleicht den Heroismus eines näheren Hinzutretens erwarten: so macht dagegen das völlige Schweigen der Synoptiker, als der In- terpreten der gewöhnlichen evangelischen Tradition, die historische Realität jenes Zuges zweifelhaft. Die Synopti- ker können weder von der Anwesenheit der Mutter Jesu bei'm Kreuz etwas gewuſst haben: sonst würden sie vor allen andern Frauen sie als die Hauptperson namhaft ma- chen; noch scheint von einem engeren Verhältniſs dersel- ben zu Johannes etwas bekannt gewesen zu sein: wenig- stens läſst die Apostelgeschichte (1, 13 f.) die Mutter Jesu mit den Zwölfen überhaupt, seinen Brüdern und den Frauen zusammensein. Wie aber die Kunde von jener rüh- renden Gegenwart und diesem merkwürdigen Verhältniſs verloren gehen konnte, begreift sich wenigstens nicht so leicht, als wie sie in dem Kreise, aus welchem das vierte Evangelium hervorgegangen ist, hat entstehen können. Müssen wir uns nach früher erwogenen Spuren diesen Kreis als einen solchen denken, in welchem der Apostel Johannes besondere Verehrung genoſs, weſswegen ihn denn unser Evangelium aus der Dreizahl der genaueren Ver- trauten Jesu heraushebt, und allein zum Lieblingsjünger macht: so konnte zur Besiegelung dieses Verhältnisses nichts Schlagenderes gefunden werden, als die Angabe, daſs Jesus die theuerste Hinterlassenschaft, seine Mutter (in Beziehung auf welche, wie auf den angeblichen Lieblings- jünger, ohnehin die Frage nahe lag, ob sie denn in dieser lezten Noth von der Seite Jesu gewichen seien?), dem Jo- 35 *
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Drittes Kapitel. §. 128.
merken, daſs die Synoptiker gerade am Schluſs der Kreu-
zes- und Todesscene, unmittelbar vor der Kreuzabnahme,
jener Stellung der Angehörigen Jesu gedenken, also vor-
aussetzen, daſs sie dieselbe bis zum Ende der Scene ein-
genommen haben, was wir der furchtsamen Stimmung der
Jünger in jenen Tagen, und namentlich der weiblichen
Schüchternheit, ganz angemessen finden müssen. Könnte
man zwar von der mütterlichen Zärtlichkeit vielleicht den
Heroismus eines näheren Hinzutretens erwarten: so macht
dagegen das völlige Schweigen der Synoptiker, als der In-
terpreten der gewöhnlichen evangelischen Tradition, die
historische Realität jenes Zuges zweifelhaft. Die Synopti-
ker können weder von der Anwesenheit der Mutter Jesu
bei'm Kreuz etwas gewuſst haben: sonst würden sie vor
allen andern Frauen sie als die Hauptperson namhaft ma-
chen; noch scheint von einem engeren Verhältniſs dersel-
ben zu Johannes etwas bekannt gewesen zu sein: wenig-
stens läſst die Apostelgeschichte (1, 13 f.) die Mutter Jesu
mit den Zwölfen überhaupt, seinen Brüdern und den
Frauen zusammensein. Wie aber die Kunde von jener rüh-
renden Gegenwart und diesem merkwürdigen Verhältniſs
verloren gehen konnte, begreift sich wenigstens nicht so
leicht, als wie sie in dem Kreise, aus welchem das vierte
Evangelium hervorgegangen ist, hat entstehen können.
Müssen wir uns nach früher erwogenen Spuren diesen
Kreis als einen solchen denken, in welchem der Apostel
Johannes besondere Verehrung genoſs, weſswegen ihn denn
unser Evangelium aus der Dreizahl der genaueren Ver-
trauten Jesu heraushebt, und allein zum Lieblingsjünger
macht: so konnte zur Besiegelung dieses Verhältnisses
nichts Schlagenderes gefunden werden, als die Angabe, daſs
Jesus die theuerste Hinterlassenschaft, seine Mutter (in
Beziehung auf welche, wie auf den angeblichen Lieblings-
jünger, ohnehin die Frage nahe lag, ob sie denn in dieser
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