Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Dritter Abschnitt. eigenes, und, nach Beseitigung übernatürlicher Erklärungs-gründe, aus seiner damaligen äussern Calamität hervorge- gangen: so konnte derjenige, welcher, wie die Evange- lien von Jesu berichten, das Leiden und Sterben längst in seinen Messiasbegriff aufgenommen, mithin als göttliche Führung begriffen hatte, das nunmehr wirklich eingetre- tene schwerlich als eine Gottverlassenheit beklagen, son- dern der Gedanke würde sehr nahe liegen, Jesus habe sich in früher gehegten Erwartungen durch die unglückliche Wendung seines Schicksals getäuscht gefunden, und so in Durchführung seines Plans von Gott verlassen geglaubt 37). Doch auf solche Vermuthungen hätten wir dann erst uns einzulassen, wenn jener Ausruf Jesu historisch sicher be- gründet wäre. In dieser Hinsicht würde uns zwar das Stillschweigen des Lukas und Johannes nicht so sehr an- fechten, dass wir zu Erklärungen desselben unsre Zuflucht nähmen, wie die: Johannes habe den Ausruf verschwie- gen, um nicht der gnostischen Ansicht Vorschub zu thun, als hätte der leidensunfähige Äon Jesum damals schon ver- lassen gehabt 38); wohl aber macht das Verhältniss der Worte Jesu zum 22ten Psalm diesen Zug verdächtig. War nämlich der Messias einmal als leidender aufgefasst, und wurde jener Psalm gleichsam als ein Programm seines Lei- dens benüzt, wozu es keineswegs des Anlasses bedurfte, dass Jesus am Kreuz eine Stelle desselben wirklich ange- führt hatte: so mussten die Anfangsworte des Psalms, wel- che das Gefühl des tiefsten Leidens aussprechen, sich ganz besonders eignen, dem gekreuzigten Messias in den Mund gelegt zu werden. In diesem Fall könnte dann auch die auf jenen Ausruf Jesu sich beziehende Spottrede 39) der 37) So der Wolfenbüttler, vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 153. 38) Schneckenburger, Beiträge, S. 66 f. 39) Nach Olshausen, S. 495, ist ein solcher Sinn der Rede mit
Dritter Abschnitt. eigenes, und, nach Beseitigung übernatürlicher Erklärungs-gründe, aus seiner damaligen äussern Calamität hervorge- gangen: so konnte derjenige, welcher, wie die Evange- lien von Jesu berichten, das Leiden und Sterben längst in seinen Messiasbegriff aufgenommen, mithin als göttliche Führung begriffen hatte, das nunmehr wirklich eingetre- tene schwerlich als eine Gottverlassenheit beklagen, son- dern der Gedanke würde sehr nahe liegen, Jesus habe sich in früher gehegten Erwartungen durch die unglückliche Wendung seines Schicksals getäuscht gefunden, und so in Durchführung seines Plans von Gott verlassen geglaubt 37). Doch auf solche Vermuthungen hätten wir dann erst uns einzulassen, wenn jener Ausruf Jesu historisch sicher be- gründet wäre. In dieser Hinsicht würde uns zwar das Stillschweigen des Lukas und Johannes nicht so sehr an- fechten, daſs wir zu Erklärungen desselben unsre Zuflucht nähmen, wie die: Johannes habe den Ausruf verschwie- gen, um nicht der gnostischen Ansicht Vorschub zu thun, als hätte der leidensunfähige Äon Jesum damals schon ver- lassen gehabt 38); wohl aber macht das Verhältniſs der Worte Jesu zum 22ten Psalm diesen Zug verdächtig. War nämlich der Messias einmal als leidender aufgefaſst, und wurde jener Psalm gleichsam als ein Programm seines Lei- dens benüzt, wozu es keineswegs des Anlasses bedurfte, daſs Jesus am Kreuz eine Stelle desselben wirklich ange- führt hatte: so muſsten die Anfangsworte des Psalms, wel- che das Gefühl des tiefsten Leidens aussprechen, sich ganz besonders eignen, dem gekreuzigten Messias in den Mund gelegt zu werden. In diesem Fall könnte dann auch die auf jenen Ausruf Jesu sich beziehende Spottrede 39) der 37) So der Wolfenbüttler, vom Zweck Jesu und seiner Jünger, S. 153. 38) Schneckenburger, Beiträge, S. 66 f. 39) Nach Olshausen, S. 495, ist ein solcher Sinn der Rede mit
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Dritter Abschnitt.
eigenes, und, nach Beseitigung übernatürlicher Erklärungs-
gründe, aus seiner damaligen äussern Calamität hervorge-
gangen: so konnte derjenige, welcher, wie die Evange-
lien von Jesu berichten, das Leiden und Sterben längst in
seinen Messiasbegriff aufgenommen, mithin als göttliche
Führung begriffen hatte, das nunmehr wirklich eingetre-
tene schwerlich als eine Gottverlassenheit beklagen, son-
dern der Gedanke würde sehr nahe liegen, Jesus habe sich
in früher gehegten Erwartungen durch die unglückliche
Wendung seines Schicksals getäuscht gefunden, und so in
Durchführung seines Plans von Gott verlassen geglaubt 37).
Doch auf solche Vermuthungen hätten wir dann erst uns
einzulassen, wenn jener Ausruf Jesu historisch sicher be-
gründet wäre. In dieser Hinsicht würde uns zwar das
Stillschweigen des Lukas und Johannes nicht so sehr an-
fechten, daſs wir zu Erklärungen desselben unsre Zuflucht
nähmen, wie die: Johannes habe den Ausruf verschwie-
gen, um nicht der gnostischen Ansicht Vorschub zu thun,
als hätte der leidensunfähige Äon Jesum damals schon ver-
lassen gehabt 38); wohl aber macht das Verhältniſs der
Worte Jesu zum 22ten Psalm diesen Zug verdächtig. War
nämlich der Messias einmal als leidender aufgefaſst, und
wurde jener Psalm gleichsam als ein Programm seines Lei-
dens benüzt, wozu es keineswegs des Anlasses bedurfte,
daſs Jesus am Kreuz eine Stelle desselben wirklich ange-
führt hatte: so muſsten die Anfangsworte des Psalms, wel-
che das Gefühl des tiefsten Leidens aussprechen, sich ganz
besonders eignen, dem gekreuzigten Messias in den Mund
gelegt zu werden. In diesem Fall könnte dann auch die
auf jenen Ausruf Jesu sich beziehende Spottrede 39) der
37) So der Wolfenbüttler, vom Zweck Jesu und seiner Jünger,
S. 153.
38) Schneckenburger, Beiträge, S. 66 f.
39) Nach Olshausen, S. 495, ist ein solcher Sinn der Rede mit
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