Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Viertes Kapitel. §. 129. Ereigniss deuten zu können, indem man es als Wirkungder Erderschütterung ansah. Allein von dieser ist, wie schon Lightfoot richtig bemerkt, eher begreiflich, wie sie feste Körper, dergleichen die nachher erwähnten petrai sind, als wie sie einen dehnbaren, freihängenden Vorhang zu zerreissen im Stande war. Daher soll nun nach Paulus Annahme der Vorhang im Tempel ausgespannt, unten und auf den Seiten befestigt gewesen sein. Allein theils ist diess blosse Vermuthung, theils, wenn das Erdbeben die Wände des Tempels so stark erschütterte, dass ein, ob auch ausgespannter, doch immer noch dehnbarer Vorhang zerriss: so wäre von solcher Erschütterung wohl eher et- was am Gebäude eingefallen, wie nach dem Hebräerevan- gelium geschehen sein soll 10): wenn man nicht mit Kuin- öl die weitere Vermuthung hinzufügen will, der Vorhang sei vor Alter mürbe, und daher auch durch eine kleine Er- schütterung zu zerreissen gewesen. Dass in keinem Fall unsre Berichterstatter an einen solchen Causalzusammen- hang gedacht haben, beweist des zweiten und dritten Evan- gelisten Schweigen von dem Erdstoss, und bei dem er- sten das, dass er desselben erst nach dem Zerreissen des Vorhangs gedenkt. Müssen wir demnach dieses Ereigniss, wenn es sich wirklich zugetragen haben soll, als wunder- bares festhalten: so müsste der göttliche Zweck bei dessen Hervorbringung dieser gewesen sein, auf die jüdischen Zeitgenossen einen starken Eindruck von der Bedeutsam- keit des Todes Jesu hervorzubringen, und den ersten Ver- kündigern des Evangeliums etwas an die Hand zu geben, worauf sie sich in ihren Beweisführungen stützen könnten. Allein, wie auch Schleiermacher herausgehoben hat, nir- 10) Hieron. ad Hedib. ep. 149, 8. (vgl. Comm. z. d. St.): in
evangelio autem, quod hebraicis literis scriptum est, legimus, non velum templi scissum, sed superliminare templi mirae magnitudinis corruisse. Viertes Kapitel. §. 129. Ereigniſs deuten zu können, indem man es als Wirkungder Erderschütterung ansah. Allein von dieser ist, wie schon Lightfoot richtig bemerkt, eher begreiflich, wie sie feste Körper, dergleichen die nachher erwähnten πέτραι sind, als wie sie einen dehnbaren, freihängenden Vorhang zu zerreissen im Stande war. Daher soll nun nach Paulus Annahme der Vorhang im Tempel ausgespannt, unten und auf den Seiten befestigt gewesen sein. Allein theils ist dieſs bloſse Vermuthung, theils, wenn das Erdbeben die Wände des Tempels so stark erschütterte, daſs ein, ob auch ausgespannter, doch immer noch dehnbarer Vorhang zerriſs: so wäre von solcher Erschütterung wohl eher et- was am Gebäude eingefallen, wie nach dem Hebräerevan- gelium geschehen sein soll 10): wenn man nicht mit Kuin- öl die weitere Vermuthung hinzufügen will, der Vorhang sei vor Alter mürbe, und daher auch durch eine kleine Er- schütterung zu zerreissen gewesen. Daſs in keinem Fall unsre Berichterstatter an einen solchen Causalzusammen- hang gedacht haben, beweist des zweiten und dritten Evan- gelisten Schweigen von dem Erdstoſs, und bei dem er- sten das, daſs er desselben erst nach dem Zerreissen des Vorhangs gedenkt. Müssen wir demnach dieses Ereigniſs, wenn es sich wirklich zugetragen haben soll, als wunder- bares festhalten: so müſste der göttliche Zweck bei dessen Hervorbringung dieser gewesen sein, auf die jüdischen Zeitgenossen einen starken Eindruck von der Bedeutsam- keit des Todes Jesu hervorzubringen, und den ersten Ver- kündigern des Evangeliums etwas an die Hand zu geben, worauf sie sich in ihren Beweisführungen stützen könnten. Allein, wie auch Schleiermacher herausgehoben hat, nir- 10) Hieron. ad Hedib. ep. 149, 8. (vgl. Comm. z. d. St.): in
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Viertes Kapitel. §. 129.
Ereigniſs deuten zu können, indem man es als Wirkung
der Erderschütterung ansah. Allein von dieser ist, wie
schon Lightfoot richtig bemerkt, eher begreiflich, wie sie
feste Körper, dergleichen die nachher erwähnten πέτραι
sind, als wie sie einen dehnbaren, freihängenden Vorhang
zu zerreissen im Stande war. Daher soll nun nach Paulus
Annahme der Vorhang im Tempel ausgespannt, unten und
auf den Seiten befestigt gewesen sein. Allein theils ist
dieſs bloſse Vermuthung, theils, wenn das Erdbeben die
Wände des Tempels so stark erschütterte, daſs ein, ob
auch ausgespannter, doch immer noch dehnbarer Vorhang
zerriſs: so wäre von solcher Erschütterung wohl eher et-
was am Gebäude eingefallen, wie nach dem Hebräerevan-
gelium geschehen sein soll 10): wenn man nicht mit Kuin-
öl die weitere Vermuthung hinzufügen will, der Vorhang
sei vor Alter mürbe, und daher auch durch eine kleine Er-
schütterung zu zerreissen gewesen. Daſs in keinem Fall
unsre Berichterstatter an einen solchen Causalzusammen-
hang gedacht haben, beweist des zweiten und dritten Evan-
gelisten Schweigen von dem Erdstoſs, und bei dem er-
sten das, daſs er desselben erst nach dem Zerreissen des
Vorhangs gedenkt. Müssen wir demnach dieses Ereigniſs,
wenn es sich wirklich zugetragen haben soll, als wunder-
bares festhalten: so müſste der göttliche Zweck bei dessen
Hervorbringung dieser gewesen sein, auf die jüdischen
Zeitgenossen einen starken Eindruck von der Bedeutsam-
keit des Todes Jesu hervorzubringen, und den ersten Ver-
kündigern des Evangeliums etwas an die Hand zu geben,
worauf sie sich in ihren Beweisführungen stützen könnten.
Allein, wie auch Schleiermacher herausgehoben hat, nir-
10) Hieron. ad Hedib. ep. 149, 8. (vgl. Comm. z. d. St.): in
evangelio autem, quod hebraicis literis scriptum est, legimus,
non velum templi scissum, sed superliminare templi mirae
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