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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 144.
mente zugleich das Urbildliche in sich getragen haben, um
diess ist der eigentliche Sinn der kirchlichen Formel, dass
die göttliche und menschliche Natur in ihm zu Einer Per-
son vereinigt gewesen seien.

Nur so weit lässt sich die Lehre von Christo aus der
inneren Erfahrung des Christen ableiten, und so weit wi-
derstreitet sie, nach Schleiermacher, auch der Wissen-
schaft nicht: was im kirchlichen Dogma darüber hinaus-
geht, -- und gerade das ist es, was die Wissenschaft an-
fechten muss, -- wie namentlich die übernatürliche Erzen-
gung Jesu und seine Wunder, auch die Thatsachen der
Auferstehung und Himmelfahrt, so wie die Vorhersagun-
gen von seiner Wiederkunft zum Gericht, können nicht
als eigentliche Bestandtheile der Lehre von Christo aufge-
stellt werden. Denn derjenige, von dessen Einwirkung
uns alle Kräftigung unsres Gottesbewusstseins kommt, kann
Christus gewesen sein, auch wenn er nicht leiblich aufer-
stand und in den Himmel sich erhob u. s. f.: so dass wir
diese Thatsachen nicht desswegen glauben, weil sie in un-
serer inneren Erfahrung mitgesezt wären, sondern nur weil
sie in der Schrift stehen, also nicht sowohl auf religiöse
und dogmatische, als vielmehr nur auf historische Weise.

Gewiss ist diese Christologie eine sehr schöne Ent-
wicklung, und in ihr, wie wir später sehen werden, das
Möglichste geleistet, um die Vereinigung des Göttlichen und
Menschlichen in Christo als einem Individuum anschaulich
zu machen 3); allein wenn dieselbe Beides, sowohl den
Glauben unverkürzt, als die Wissenschaft unverlezt zu er-
halten meint: so muss gesagt werden, dass sie sich in Bei-
dem täuscht 4).

3) Auch hier befinde ich mich im Gegensaz gegen Rosenkranz,
welcher a. a. O. die Schleiermacher'sche Christologie eine
gequälte Entwicklung nennt.
4) Diess ist auch bereits in den namhaftesten Beurtheilungen
des Schleiermacher'schen Systems zum Bewusstsein gekom-

Schluſsabhandlung. §. 144.
mente zugleich das Urbildliche in sich getragen haben, um
dieſs ist der eigentliche Sinn der kirchlichen Formel, daſs
die göttliche und menschliche Natur in ihm zu Einer Per-
son vereinigt gewesen seien.

Nur so weit läſst sich die Lehre von Christo aus der
inneren Erfahrung des Christen ableiten, und so weit wi-
derstreitet sie, nach Schleiermacher, auch der Wissen-
schaft nicht: was im kirchlichen Dogma darüber hinaus-
geht, — und gerade das ist es, was die Wissenschaft an-
fechten muſs, — wie namentlich die übernatürliche Erzen-
gung Jesu und seine Wunder, auch die Thatsachen der
Auferstehung und Himmelfahrt, so wie die Vorhersagun-
gen von seiner Wiederkunft zum Gericht, können nicht
als eigentliche Bestandtheile der Lehre von Christo aufge-
stellt werden. Denn derjenige, von dessen Einwirkung
uns alle Kräftigung unsres Gottesbewuſstseins kommt, kann
Christus gewesen sein, auch wenn er nicht leiblich aufer-
stand und in den Himmel sich erhob u. s. f.: so daſs wir
diese Thatsachen nicht deſswegen glauben, weil sie in un-
serer inneren Erfahrung mitgesezt wären, sondern nur weil
sie in der Schrift stehen, also nicht sowohl auf religiöse
und dogmatische, als vielmehr nur auf historische Weise.

Gewiſs ist diese Christologie eine sehr schöne Ent-
wicklung, und in ihr, wie wir später sehen werden, das
Möglichste geleistet, um die Vereinigung des Göttlichen und
Menschlichen in Christo als einem Individuum anschaulich
zu machen 3); allein wenn dieselbe Beides, sowohl den
Glauben unverkürzt, als die Wissenschaft unverlezt zu er-
halten meint: so muſs gesagt werden, daſs sie sich in Bei-
dem täuscht 4).

3) Auch hier befinde ich mich im Gegensaz gegen Rosenkranz,
welcher a. a. O. die Schleiermacher'sche Christologie eine
gequälte Entwicklung nennt.
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[714/0733] Schluſsabhandlung. §. 144. mente zugleich das Urbildliche in sich getragen haben, um dieſs ist der eigentliche Sinn der kirchlichen Formel, daſs die göttliche und menschliche Natur in ihm zu Einer Per- son vereinigt gewesen seien. Nur so weit läſst sich die Lehre von Christo aus der inneren Erfahrung des Christen ableiten, und so weit wi- derstreitet sie, nach Schleiermacher, auch der Wissen- schaft nicht: was im kirchlichen Dogma darüber hinaus- geht, — und gerade das ist es, was die Wissenschaft an- fechten muſs, — wie namentlich die übernatürliche Erzen- gung Jesu und seine Wunder, auch die Thatsachen der Auferstehung und Himmelfahrt, so wie die Vorhersagun- gen von seiner Wiederkunft zum Gericht, können nicht als eigentliche Bestandtheile der Lehre von Christo aufge- stellt werden. Denn derjenige, von dessen Einwirkung uns alle Kräftigung unsres Gottesbewuſstseins kommt, kann Christus gewesen sein, auch wenn er nicht leiblich aufer- stand und in den Himmel sich erhob u. s. f.: so daſs wir diese Thatsachen nicht deſswegen glauben, weil sie in un- serer inneren Erfahrung mitgesezt wären, sondern nur weil sie in der Schrift stehen, also nicht sowohl auf religiöse und dogmatische, als vielmehr nur auf historische Weise. Gewiſs ist diese Christologie eine sehr schöne Ent- wicklung, und in ihr, wie wir später sehen werden, das Möglichste geleistet, um die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in Christo als einem Individuum anschaulich zu machen 3); allein wenn dieselbe Beides, sowohl den Glauben unverkürzt, als die Wissenschaft unverlezt zu er- halten meint: so muſs gesagt werden, daſs sie sich in Bei- dem täuscht 4). 3) Auch hier befinde ich mich im Gegensaz gegen Rosenkranz, welcher a. a. O. die Schleiermacher'sche Christologie eine gequälte Entwicklung nennt. 4) Diess ist auch bereits in den namhaftesten Beurtheilungen des Schleiermacher'schen Systems zum Bewusstsein gekom-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/733>, abgerufen am 22.11.2024.