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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Schlussabhandlung. §. 147.
einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Ei-
genschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre
Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie
zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der bei-
den Naturen, der menschgewordene Gott, der zur End-
lichkeit entäusserte unendliche, und der seiner Unendlich-
keit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der
sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Gei-
stes und der Natur; sie ist der Wunderthäter: sofern im
Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer voll-
ständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum
machtlosen Material seiner Thätigkeit heruntergesezt wird;
sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwick-
lung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am
Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte
aufgehoben ist; sie ist der Sterbende, Auferstehende und
gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation ihrer Na-
türlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung
ihrer Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltli-
chen Geistes ihre Einigkeit mit dem unendlichen Geiste des
Himmels hervorgeht, Durch den Glauben an diesen Chri-
stus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung,
wird der Mensch vor Gott gerecht: d. h. durch die Bele-
bung der Idee der Menschheit in sich, namentlich nach
dem Momente, dass die Negation der Natürlichkeit, wel-
che selbst schon Negation des Geistes ist, also die Nega-
tion der Negation, der einzige Weg zum wahren geistigen
Leben für den Menschen sei, wird auch der einzelne des
gottmenschlichen Lebens der Gattung theilhaftig.

Diess allein ist der absolute Inhalt der Christologie:
dass derselbe an die Person und Geschichte eines Einzel-
nen geknüpft erscheint, hat nur den subjektiven Grund,
dass dieses Individuum durch seine Persönlichkeit und seine
Schicksale Anlass wurde, jenen Inhalt in das allgemeine
Bewusstsein zu erheben, und dass die Geistesstufe der al-

Schluſsabhandlung. §. 147.
einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Ei-
genschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre
Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie
zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der bei-
den Naturen, der menschgewordene Gott, der zur End-
lichkeit entäusserte unendliche, und der seiner Unendlich-
keit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der
sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Gei-
stes und der Natur; sie ist der Wunderthäter: sofern im
Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer voll-
ständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum
machtlosen Material seiner Thätigkeit heruntergesezt wird;
sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwick-
lung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am
Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte
aufgehoben ist; sie ist der Sterbende, Auferstehende und
gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation ihrer Na-
türlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung
ihrer Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltli-
chen Geistes ihre Einigkeit mit dem unendlichen Geiste des
Himmels hervorgeht, Durch den Glauben an diesen Chri-
stus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung,
wird der Mensch vor Gott gerecht: d. h. durch die Bele-
bung der Idee der Menschheit in sich, namentlich nach
dem Momente, daſs die Negation der Natürlichkeit, wel-
che selbst schon Negation des Geistes ist, also die Nega-
tion der Negation, der einzige Weg zum wahren geistigen
Leben für den Menschen sei, wird auch der einzelne des
gottmenschlichen Lebens der Gattung theilhaftig.

Dieſs allein ist der absolute Inhalt der Christologie:
daſs derselbe an die Person und Geschichte eines Einzel-
nen geknüpft erscheint, hat nur den subjektiven Grund,
daſs dieses Individuum durch seine Persönlichkeit und seine
Schicksale Anlaſs wurde, jenen Inhalt in das allgemeine
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[735/0754] Schluſsabhandlung. §. 147. einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Ei- genschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der bei- den Naturen, der menschgewordene Gott, der zur End- lichkeit entäusserte unendliche, und der seiner Unendlich- keit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Gei- stes und der Natur; sie ist der Wunderthäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer voll- ständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Thätigkeit heruntergesezt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwick- lung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist; sie ist der Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation ihrer Na- türlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung ihrer Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltli- chen Geistes ihre Einigkeit mit dem unendlichen Geiste des Himmels hervorgeht, Durch den Glauben an diesen Chri- stus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung, wird der Mensch vor Gott gerecht: d. h. durch die Bele- bung der Idee der Menschheit in sich, namentlich nach dem Momente, daſs die Negation der Natürlichkeit, wel- che selbst schon Negation des Geistes ist, also die Nega- tion der Negation, der einzige Weg zum wahren geistigen Leben für den Menschen sei, wird auch der einzelne des gottmenschlichen Lebens der Gattung theilhaftig. Dieſs allein ist der absolute Inhalt der Christologie: daſs derselbe an die Person und Geschichte eines Einzel- nen geknüpft erscheint, hat nur den subjektiven Grund, daſs dieses Individuum durch seine Persönlichkeit und seine Schicksale Anlaſs wurde, jenen Inhalt in das allgemeine Bewuſstsein zu erheben, und daſs die Geistesstufe der al-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 735. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/754>, abgerufen am 23.11.2024.