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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Neuntes Kapitel. §. 91.

Es lässt uns also auch hier die natürliche Erklärung
im Stiche, und wir behalten einen von Jesu wunderbar
geheilten Blindgeborenen. Dass unsre obigen Zweifel ge-
gen die Realität der Blindenheilungen hier, wo es sich
von angeborener Blindheit handelt, in verstärktem Maasse
wiederkehren, ist natürlich. Und zwar kommen hier noch
einige besondere kritische Gründe hinzu. Keiner der drei
ersten Evangelisten weiss etwas von dieser Heilung. Nun
aber, wenn doch in der Gestaltung der apostolischen Tra-
dition und in der Auswahl, welche sie unter den von Jesu
zu erzählenden Wundern traf, irgend ein Verstand gewe-
sen sein soll, so muss sich diese nach den zwei Gesichts-
punkten gerichtet haben: erstlich, die grösseren Wunder
vor den scheinbar minder bedeutenden auszuwählen, und
zweitens diejenigen, an welche sich erbauliche Erörterun-
gen knüpften, vor denen, bei welchen diess nicht der Fall
war. In der ersteren Rücksicht war nun offenbar die Hei-
lung eines von Geburt an Blinden, als die ungleich schwie-
rigere, vor der eines Blinden schlechthin auszuwählen, und
man begreift nicht, wenn doch Jesus wirklich einen Blind-
geborenen sehend gemacht hat, warum davon nichts in
die evangelische Tradition und also in die synoptischen
Evangelien gekommen ist. Freilich konnte mit dieser Rück-
sicht auf die Grösse des Wunders die andere auf die Er-
baulichkeit der daran sich knüpfenden Reden nicht selten
collidiren, so dass ein minder auffallendes, aber durch die
Gespräche, die es veranlasste, fruchtbareres Wunder ei-
nem auffallenderen, aber bei welchem das Leztere weni-
ger zutraf, vorgezogen werden mochte. Allein die Hei-
lung des Blindgeborenen bei Johannes ist von so merkwür-
digen Gesprächen, zuerst Jesu mit den Jüngern, dann
des Geheilten mit der Obrigkeit, endlich Jesu mit dem
Geheilten, begleitet, wie von dergleichen bei den synopti-
schen Blindenheilungen keine Spur ist, Gespräche, von
welchen, wenn auch nicht der ganze dialogische Verlauf,

Neuntes Kapitel. §. 91.

Es läſst uns also auch hier die natürliche Erklärung
im Stiche, und wir behalten einen von Jesu wunderbar
geheilten Blindgeborenen. Daſs unsre obigen Zweifel ge-
gen die Realität der Blindenheilungen hier, wo es sich
von angeborener Blindheit handelt, in verstärktem Maaſse
wiederkehren, ist natürlich. Und zwar kommen hier noch
einige besondere kritische Gründe hinzu. Keiner der drei
ersten Evangelisten weiſs etwas von dieser Heilung. Nun
aber, wenn doch in der Gestaltung der apostolischen Tra-
dition und in der Auswahl, welche sie unter den von Jesu
zu erzählenden Wundern traf, irgend ein Verstand gewe-
sen sein soll, so muſs sich diese nach den zwei Gesichts-
punkten gerichtet haben: erstlich, die gröſseren Wunder
vor den scheinbar minder bedeutenden auszuwählen, und
zweitens diejenigen, an welche sich erbauliche Erörterun-
gen knüpften, vor denen, bei welchen dieſs nicht der Fall
war. In der ersteren Rücksicht war nun offenbar die Hei-
lung eines von Geburt an Blinden, als die ungleich schwie-
rigere, vor der eines Blinden schlechthin auszuwählen, und
man begreift nicht, wenn doch Jesus wirklich einen Blind-
geborenen sehend gemacht hat, warum davon nichts in
die evangelische Tradition und also in die synoptischen
Evangelien gekommen ist. Freilich konnte mit dieser Rück-
sicht auf die Gröſse des Wunders die andere auf die Er-
baulichkeit der daran sich knüpfenden Reden nicht selten
collidiren, so daſs ein minder auffallendes, aber durch die
Gespräche, die es veranlaſste, fruchtbareres Wunder ei-
nem auffallenderen, aber bei welchem das Leztere weni-
ger zutraf, vorgezogen werden mochte. Allein die Hei-
lung des Blindgeborenen bei Johannes ist von so merkwür-
digen Gesprächen, zuerst Jesu mit den Jüngern, dann
des Geheilten mit der Obrigkeit, endlich Jesu mit dem
Geheilten, begleitet, wie von dergleichen bei den synopti-
schen Blindenheilungen keine Spur ist, Gespräche, von
welchen, wenn auch nicht der ganze dialogische Verlauf,

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[79/0098] Neuntes Kapitel. §. 91. Es läſst uns also auch hier die natürliche Erklärung im Stiche, und wir behalten einen von Jesu wunderbar geheilten Blindgeborenen. Daſs unsre obigen Zweifel ge- gen die Realität der Blindenheilungen hier, wo es sich von angeborener Blindheit handelt, in verstärktem Maaſse wiederkehren, ist natürlich. Und zwar kommen hier noch einige besondere kritische Gründe hinzu. Keiner der drei ersten Evangelisten weiſs etwas von dieser Heilung. Nun aber, wenn doch in der Gestaltung der apostolischen Tra- dition und in der Auswahl, welche sie unter den von Jesu zu erzählenden Wundern traf, irgend ein Verstand gewe- sen sein soll, so muſs sich diese nach den zwei Gesichts- punkten gerichtet haben: erstlich, die gröſseren Wunder vor den scheinbar minder bedeutenden auszuwählen, und zweitens diejenigen, an welche sich erbauliche Erörterun- gen knüpften, vor denen, bei welchen dieſs nicht der Fall war. In der ersteren Rücksicht war nun offenbar die Hei- lung eines von Geburt an Blinden, als die ungleich schwie- rigere, vor der eines Blinden schlechthin auszuwählen, und man begreift nicht, wenn doch Jesus wirklich einen Blind- geborenen sehend gemacht hat, warum davon nichts in die evangelische Tradition und also in die synoptischen Evangelien gekommen ist. Freilich konnte mit dieser Rück- sicht auf die Gröſse des Wunders die andere auf die Er- baulichkeit der daran sich knüpfenden Reden nicht selten collidiren, so daſs ein minder auffallendes, aber durch die Gespräche, die es veranlaſste, fruchtbareres Wunder ei- nem auffallenderen, aber bei welchem das Leztere weni- ger zutraf, vorgezogen werden mochte. Allein die Hei- lung des Blindgeborenen bei Johannes ist von so merkwür- digen Gesprächen, zuerst Jesu mit den Jüngern, dann des Geheilten mit der Obrigkeit, endlich Jesu mit dem Geheilten, begleitet, wie von dergleichen bei den synopti- schen Blindenheilungen keine Spur ist, Gespräche, von welchen, wenn auch nicht der ganze dialogische Verlauf,

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/98>, abgerufen am 21.11.2024.