Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

Ein und zwanzigste Betr. Bekenntniß Jesu etc.
Meßias, und der Heiland der Welt. Nun verlieren sich
alle scheinbaren Widersprüche, die ich bisher bey der Be-
trachtung seiner königlichen Hoheit entdeckt zu ha[b]en glau-
be. Es war mir unbegreiflich, wie Jesus ein König seyn,
und doch so allgemein verworfen, so schändlich mißhandelt,
und so tief erniedriget werden konnte. Es war mir unbe-
greiflich, daß Jesus, der König, so wenig Unterthanen
und so wenig Grosse und Reiche zu seinen Anhängern ha-
ben konnte. Es war mir unbegreiflich, daß Jesu alle
Macht im Himmel und auf Erden gegeben ward, und den-
noch die Fürsten der Erde sich in die Reichthümer und Län-
der der Welt theilten. Ein König zu seyn, und so sehr
verachtet zu werden, das schienen meinem Verstande Wi-
dersprüche zu seyn. Aber nun klärt sich diese Dunkelheit
auf. Er ist ein König: aber sein Reich ist nicht von die-
ser Welt: sein Reich ist ein Reich der Wahrheit.

Wohl mir, daß das Reich Jesu nicht ein irrdi-
sches Reich ist! Nun weiß ich mich zu beruhigen, wenn
ich auf der Welt nicht Freuden, Glück und Ehre, sondern
statt dessen Elend, Verachtung und Armuth finde. Nun
soll es mich nicht irre machen, wenn hier nicht meine Wün-
sche und Hofnungen erfüllt werden. Das Reich Jesu
ist nicht von dieser Welt.
Es hat nichts mit den Kö-
nigreichen der Erde gemein. Ich darf nicht grosse Sum-
men anwenden, ich darf nicht mein Blut oder mein Ver-
mögen aufopfern, um mir eine Stelle in demselben zu er-
kaufen. Ich darf mich nicht selbst verzehren, um mei-
nen König groß und reich zu machen. Ich darf nicht den
Verlust der Güter befürchten, die mir von meinem Kö-
nige überlassen worden. Das Reich Jesu ist nicht von
dieser Welt.
Wenn irrdische Reiche beständigen Ver-
änderungen unterworfen sind, wenn ihre Macht, ihr
Glanz von zu kurzer Dauer ist, so wird dieses Reich seine

Grän-
Sturms Leidensgeschichte. G

Ein und zwanzigſte Betr. Bekenntniß Jeſu ꝛc.
Meßias, und der Heiland der Welt. Nun verlieren ſich
alle ſcheinbaren Widerſprüche, die ich bisher bey der Be-
trachtung ſeiner königlichen Hoheit entdeckt zu ha[b]en glau-
be. Es war mir unbegreiflich, wie Jeſus ein König ſeyn,
und doch ſo allgemein verworfen, ſo ſchändlich mißhandelt,
und ſo tief erniedriget werden konnte. Es war mir unbe-
greiflich, daß Jeſus, der König, ſo wenig Unterthanen
und ſo wenig Groſſe und Reiche zu ſeinen Anhängern ha-
ben konnte. Es war mir unbegreiflich, daß Jeſu alle
Macht im Himmel und auf Erden gegeben ward, und den-
noch die Fürſten der Erde ſich in die Reichthümer und Län-
der der Welt theilten. Ein König zu ſeyn, und ſo ſehr
verachtet zu werden, das ſchienen meinem Verſtande Wi-
derſprüche zu ſeyn. Aber nun klärt ſich dieſe Dunkelheit
auf. Er iſt ein König: aber ſein Reich iſt nicht von die-
ſer Welt: ſein Reich iſt ein Reich der Wahrheit.

Wohl mir, daß das Reich Jeſu nicht ein irrdi-
ſches Reich iſt! Nun weiß ich mich zu beruhigen, wenn
ich auf der Welt nicht Freuden, Glück und Ehre, ſondern
ſtatt deſſen Elend, Verachtung und Armuth finde. Nun
ſoll es mich nicht irre machen, wenn hier nicht meine Wün-
ſche und Hofnungen erfüllt werden. Das Reich Jeſu
iſt nicht von dieſer Welt.
Es hat nichts mit den Kö-
nigreichen der Erde gemein. Ich darf nicht groſſe Sum-
men anwenden, ich darf nicht mein Blut oder mein Ver-
mögen aufopfern, um mir eine Stelle in demſelben zu er-
kaufen. Ich darf mich nicht ſelbſt verzehren, um mei-
nen König groß und reich zu machen. Ich darf nicht den
Verluſt der Güter befürchten, die mir von meinem Kö-
nige überlaſſen worden. Das Reich Jeſu iſt nicht von
dieſer Welt.
Wenn irrdiſche Reiche beſtändigen Ver-
änderungen unterworfen ſind, wenn ihre Macht, ihr
Glanz von zu kurzer Dauer iſt, ſo wird dieſes Reich ſeine

Grän-
Sturms Leidensgeſchichte. G
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0119" n="97"/><fw place="top" type="header">Ein und zwanzig&#x017F;te Betr. Bekenntniß Je&#x017F;u &#xA75B;c.</fw><lb/>
Meßias, und der Heiland der Welt. Nun verlieren &#x017F;ich<lb/>
alle &#x017F;cheinbaren Wider&#x017F;prüche, die ich bisher bey der Be-<lb/>
trachtung &#x017F;einer königlichen Hoheit entdeckt zu ha<supplied>b</supplied>en glau-<lb/>
be. Es war mir unbegreiflich, wie Je&#x017F;us ein König &#x017F;eyn,<lb/>
und doch &#x017F;o allgemein verworfen, &#x017F;o &#x017F;chändlich mißhandelt,<lb/>
und &#x017F;o tief erniedriget werden konnte. Es war mir unbe-<lb/>
greiflich, daß Je&#x017F;us, der König, &#x017F;o wenig Unterthanen<lb/>
und &#x017F;o wenig Gro&#x017F;&#x017F;e und Reiche zu &#x017F;einen Anhängern ha-<lb/>
ben konnte. Es war mir unbegreiflich, daß Je&#x017F;u alle<lb/>
Macht im Himmel und auf Erden gegeben ward, und den-<lb/>
noch die Für&#x017F;ten der Erde &#x017F;ich in die Reichthümer und Län-<lb/>
der der Welt theilten. Ein König zu &#x017F;eyn, und &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
verachtet zu werden, das &#x017F;chienen meinem Ver&#x017F;tande Wi-<lb/>
der&#x017F;prüche zu &#x017F;eyn. Aber nun klärt &#x017F;ich die&#x017F;e Dunkelheit<lb/>
auf. Er i&#x017F;t ein König: aber &#x017F;ein Reich i&#x017F;t nicht von die-<lb/>
&#x017F;er Welt: &#x017F;ein Reich i&#x017F;t ein Reich der Wahrheit.</p><lb/>
          <p>Wohl mir, daß das Reich Je&#x017F;u nicht ein irrdi-<lb/>
&#x017F;ches Reich i&#x017F;t! Nun weiß ich mich zu beruhigen, wenn<lb/>
ich auf der Welt nicht Freuden, Glück und Ehre, &#x017F;ondern<lb/>
&#x017F;tatt de&#x017F;&#x017F;en Elend, Verachtung und Armuth finde. Nun<lb/>
&#x017F;oll es mich nicht irre machen, wenn hier nicht meine Wün-<lb/>
&#x017F;che und Hofnungen erfüllt werden. <hi rendition="#fr">Das Reich Je&#x017F;u<lb/>
i&#x017F;t nicht von die&#x017F;er Welt.</hi> Es hat nichts mit den Kö-<lb/>
nigreichen der Erde gemein. Ich darf nicht gro&#x017F;&#x017F;e Sum-<lb/>
men anwenden, ich darf nicht mein Blut oder mein Ver-<lb/>
mögen aufopfern, um mir eine Stelle in dem&#x017F;elben zu er-<lb/>
kaufen. Ich darf mich nicht &#x017F;elb&#x017F;t verzehren, um mei-<lb/>
nen König groß und reich zu machen. Ich darf nicht den<lb/>
Verlu&#x017F;t der Güter befürchten, die mir von meinem Kö-<lb/>
nige überla&#x017F;&#x017F;en worden. <hi rendition="#fr">Das Reich Je&#x017F;u i&#x017F;t nicht von<lb/>
die&#x017F;er Welt.</hi> Wenn irrdi&#x017F;che Reiche be&#x017F;tändigen Ver-<lb/>
änderungen unterworfen &#x017F;ind, wenn ihre Macht, ihr<lb/>
Glanz von zu kurzer Dauer i&#x017F;t, &#x017F;o wird die&#x017F;es Reich &#x017F;eine<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Sturms Leidensge&#x017F;chichte.</hi> G</fw><fw place="bottom" type="catch">Grän-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0119] Ein und zwanzigſte Betr. Bekenntniß Jeſu ꝛc. Meßias, und der Heiland der Welt. Nun verlieren ſich alle ſcheinbaren Widerſprüche, die ich bisher bey der Be- trachtung ſeiner königlichen Hoheit entdeckt zu haben glau- be. Es war mir unbegreiflich, wie Jeſus ein König ſeyn, und doch ſo allgemein verworfen, ſo ſchändlich mißhandelt, und ſo tief erniedriget werden konnte. Es war mir unbe- greiflich, daß Jeſus, der König, ſo wenig Unterthanen und ſo wenig Groſſe und Reiche zu ſeinen Anhängern ha- ben konnte. Es war mir unbegreiflich, daß Jeſu alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ward, und den- noch die Fürſten der Erde ſich in die Reichthümer und Län- der der Welt theilten. Ein König zu ſeyn, und ſo ſehr verachtet zu werden, das ſchienen meinem Verſtande Wi- derſprüche zu ſeyn. Aber nun klärt ſich dieſe Dunkelheit auf. Er iſt ein König: aber ſein Reich iſt nicht von die- ſer Welt: ſein Reich iſt ein Reich der Wahrheit. Wohl mir, daß das Reich Jeſu nicht ein irrdi- ſches Reich iſt! Nun weiß ich mich zu beruhigen, wenn ich auf der Welt nicht Freuden, Glück und Ehre, ſondern ſtatt deſſen Elend, Verachtung und Armuth finde. Nun ſoll es mich nicht irre machen, wenn hier nicht meine Wün- ſche und Hofnungen erfüllt werden. Das Reich Jeſu iſt nicht von dieſer Welt. Es hat nichts mit den Kö- nigreichen der Erde gemein. Ich darf nicht groſſe Sum- men anwenden, ich darf nicht mein Blut oder mein Ver- mögen aufopfern, um mir eine Stelle in demſelben zu er- kaufen. Ich darf mich nicht ſelbſt verzehren, um mei- nen König groß und reich zu machen. Ich darf nicht den Verluſt der Güter befürchten, die mir von meinem Kö- nige überlaſſen worden. Das Reich Jeſu iſt nicht von dieſer Welt. Wenn irrdiſche Reiche beſtändigen Ver- änderungen unterworfen ſind, wenn ihre Macht, ihr Glanz von zu kurzer Dauer iſt, ſo wird dieſes Reich ſeine Grän- Sturms Leidensgeſchichte. G

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/119
Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/119>, abgerufen am 27.09.2024.