hast du mich verlassen! -- Mich dürstet. -- Es ist voll- bracht. -- Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.
Owie sanft ist die Stimme, die von Golgatha er- schallt! Fürchterlich war Gottes Stimme auf Si- nai, da er als Gesetzgeber und Richter im Donner redete, da tödtende Blitze um ihn her leuchteten. Aber hier ist alles stille. Hier darf ich mich ohne Furcht, dem Ber- ge nahen, auf welchem mein Jesus blutet; hier kann ich ohne zu erzittern, seine Stimme hören. Denn mein ster- bender Jesus stellt sich allen Sündern, allen Verlassenen, allen Sterbenden in der angenehmsten Gestalt dar. Ich will ihn jetzt zur Stärkung meines Glaubens betrachten.
Ich sehe in der Person Jesu den Freund der Sün- der, welcher den Verlohrnen bis ans Ende zugethan ist. Waren es die Sünder, um derentwillen er, so lange er auf der Erde wandelte, alle Arbeiten und Leiden übernahm, so waren sie auch der Gegenstand seiner liebreichen Sorg- falt jetzt, da er im Begrif war, den Tod zu leiden. Sein erster und stärkster Gedanke waren die Sünder. Um sein Kreuz her stand eine Anzahl der ruchlosesten Bösewichter. Er sah sie mit den Augen der mitleidigsten Liebe an, und bat für sie in jenen rührenden Worten: Vater, vergib ih- nen, denn sie wissen nicht, was sie thun. An seiner Seite hieng ein Missethäter, der mit gebeugtem Herzen Gnade suchte. Wie eilte er, diesen Mühseligen zu erqui- cken! Wie bereitwillig war er, ihm die Versicherung zu ertheilen: heute wirst du mit mir im Paradiese seyn! -- Erquickender Anblick für mein geängstigtes Herz! Auch für mich hat Jesus am Tage seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrey und Thränen geopfert. Wo würde ich seyn, wenn er mich nicht in jene Fürbitte eingeschlos- sen hätte, welche er für seine Mörder gethan? Vielleicht
wür-
Zwey und dreyßigſte Betrachtung.
haſt du mich verlaſſen! — Mich dürſtet. — Es iſt voll- bracht. — Vater, ich befehle meinen Geiſt in deine Hände.
Owie ſanft iſt die Stimme, die von Golgatha er- ſchallt! Fürchterlich war Gottes Stimme auf Si- nai, da er als Geſetzgeber und Richter im Donner redete, da tödtende Blitze um ihn her leuchteten. Aber hier iſt alles ſtille. Hier darf ich mich ohne Furcht, dem Ber- ge nahen, auf welchem mein Jeſus blutet; hier kann ich ohne zu erzittern, ſeine Stimme hören. Denn mein ſter- bender Jeſus ſtellt ſich allen Sündern, allen Verlaſſenen, allen Sterbenden in der angenehmſten Geſtalt dar. Ich will ihn jetzt zur Stärkung meines Glaubens betrachten.
Ich ſehe in der Perſon Jeſu den Freund der Sün- der, welcher den Verlohrnen bis ans Ende zugethan iſt. Waren es die Sünder, um derentwillen er, ſo lange er auf der Erde wandelte, alle Arbeiten und Leiden übernahm, ſo waren ſie auch der Gegenſtand ſeiner liebreichen Sorg- falt jetzt, da er im Begrif war, den Tod zu leiden. Sein erſter und ſtärkſter Gedanke waren die Sünder. Um ſein Kreuz her ſtand eine Anzahl der ruchloſeſten Böſewichter. Er ſah ſie mit den Augen der mitleidigſten Liebe an, und bat für ſie in jenen rührenden Worten: Vater, vergib ih- nen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun. An ſeiner Seite hieng ein Miſſethäter, der mit gebeugtem Herzen Gnade ſuchte. Wie eilte er, dieſen Mühſeligen zu erqui- cken! Wie bereitwillig war er, ihm die Verſicherung zu ertheilen: heute wirſt du mit mir im Paradieſe ſeyn! — Erquickender Anblick für mein geängſtigtes Herz! Auch für mich hat Jeſus am Tage ſeines Fleiſches Gebet und Flehen mit ſtarkem Geſchrey und Thränen geopfert. Wo würde ich ſeyn, wenn er mich nicht in jene Fürbitte eingeſchloſ- ſen hätte, welche er für ſeine Mörder gethan? Vielleicht
wür-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><cit><quote><pbfacs="#f0166"n="144"/><fwplace="top"type="header">Zwey und dreyßigſte Betrachtung.</fw><lb/>
haſt du mich verlaſſen! — Mich dürſtet. — Es iſt voll-<lb/>
bracht. — Vater, ich befehle meinen Geiſt in deine Hände.</quote></cit><lb/><p><hirendition="#in">O</hi>wie ſanft iſt die Stimme, die von Golgatha er-<lb/>ſchallt! Fürchterlich war Gottes Stimme auf Si-<lb/>
nai, da er als Geſetzgeber und Richter im Donner<lb/>
redete, da tödtende Blitze um ihn her leuchteten. Aber hier<lb/>
iſt alles ſtille. Hier darf ich mich ohne Furcht, dem Ber-<lb/>
ge nahen, auf welchem mein Jeſus blutet; hier kann ich<lb/>
ohne zu erzittern, ſeine Stimme hören. Denn mein ſter-<lb/>
bender Jeſus ſtellt ſich allen Sündern, allen Verlaſſenen,<lb/>
allen Sterbenden in der angenehmſten Geſtalt dar. Ich<lb/>
will ihn jetzt zur Stärkung meines Glaubens betrachten.</p><lb/><p>Ich ſehe in der Perſon Jeſu den <hirendition="#fr">Freund der Sün-<lb/>
der,</hi> welcher den Verlohrnen bis ans Ende zugethan iſt.<lb/>
Waren es die Sünder, um derentwillen er, ſo lange er auf<lb/>
der Erde wandelte, alle Arbeiten und Leiden übernahm,<lb/>ſo waren ſie auch der Gegenſtand ſeiner liebreichen Sorg-<lb/>
falt jetzt, da er im Begrif war, den Tod zu leiden. Sein<lb/>
erſter und ſtärkſter Gedanke waren die Sünder. Um ſein<lb/>
Kreuz her ſtand eine Anzahl der ruchloſeſten Böſewichter.<lb/>
Er ſah ſie mit den Augen der mitleidigſten Liebe an, und bat<lb/>
für ſie in jenen rührenden Worten: <hirendition="#fr">Vater, vergib ih-<lb/>
nen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun.</hi> An ſeiner<lb/>
Seite hieng ein Miſſethäter, der mit gebeugtem Herzen<lb/>
Gnade ſuchte. Wie eilte er, dieſen Mühſeligen zu erqui-<lb/>
cken! Wie bereitwillig war er, ihm die Verſicherung zu<lb/>
ertheilen: <hirendition="#fr">heute wirſt du mit mir im Paradieſe ſeyn!</hi><lb/>— Erquickender Anblick für mein geängſtigtes Herz! Auch<lb/>
für mich hat Jeſus am Tage ſeines Fleiſches Gebet und<lb/>
Flehen mit ſtarkem Geſchrey und Thränen geopfert. Wo<lb/>
würde ich ſeyn, wenn er mich nicht in jene Fürbitte eingeſchloſ-<lb/>ſen hätte, welche er für ſeine Mörder gethan? Vielleicht<lb/><fwplace="bottom"type="catch">wür-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[144/0166]
Zwey und dreyßigſte Betrachtung.
haſt du mich verlaſſen! — Mich dürſtet. — Es iſt voll-
bracht. — Vater, ich befehle meinen Geiſt in deine Hände.
Owie ſanft iſt die Stimme, die von Golgatha er-
ſchallt! Fürchterlich war Gottes Stimme auf Si-
nai, da er als Geſetzgeber und Richter im Donner
redete, da tödtende Blitze um ihn her leuchteten. Aber hier
iſt alles ſtille. Hier darf ich mich ohne Furcht, dem Ber-
ge nahen, auf welchem mein Jeſus blutet; hier kann ich
ohne zu erzittern, ſeine Stimme hören. Denn mein ſter-
bender Jeſus ſtellt ſich allen Sündern, allen Verlaſſenen,
allen Sterbenden in der angenehmſten Geſtalt dar. Ich
will ihn jetzt zur Stärkung meines Glaubens betrachten.
Ich ſehe in der Perſon Jeſu den Freund der Sün-
der, welcher den Verlohrnen bis ans Ende zugethan iſt.
Waren es die Sünder, um derentwillen er, ſo lange er auf
der Erde wandelte, alle Arbeiten und Leiden übernahm,
ſo waren ſie auch der Gegenſtand ſeiner liebreichen Sorg-
falt jetzt, da er im Begrif war, den Tod zu leiden. Sein
erſter und ſtärkſter Gedanke waren die Sünder. Um ſein
Kreuz her ſtand eine Anzahl der ruchloſeſten Böſewichter.
Er ſah ſie mit den Augen der mitleidigſten Liebe an, und bat
für ſie in jenen rührenden Worten: Vater, vergib ih-
nen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun. An ſeiner
Seite hieng ein Miſſethäter, der mit gebeugtem Herzen
Gnade ſuchte. Wie eilte er, dieſen Mühſeligen zu erqui-
cken! Wie bereitwillig war er, ihm die Verſicherung zu
ertheilen: heute wirſt du mit mir im Paradieſe ſeyn!
— Erquickender Anblick für mein geängſtigtes Herz! Auch
für mich hat Jeſus am Tage ſeines Fleiſches Gebet und
Flehen mit ſtarkem Geſchrey und Thränen geopfert. Wo
würde ich ſeyn, wenn er mich nicht in jene Fürbitte eingeſchloſ-
ſen hätte, welche er für ſeine Mörder gethan? Vielleicht
wür-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/166>, abgerufen am 18.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.