II. Die Gemüthsfassung bey der Betrachtung der Leiden Jesu.
1 Cor. 2, 2. Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, oh- ne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten.
Bin ich wohl in demjenigen Zustande des Gemüths, in welchem sich Paulus befand, als er zu Corinth das Evangelium predigte? Ist meine Liebe ge- gen den Erlöser so brünstig, daß die Betrachtung seiner Leiden und seines Todes alle andre Gedanken und Ueber- legungen verdunkelt? Ist es meine größte Weisheit, den zu wissen, der für mich gestorben ist? Ist es meine liebste Beschäftigung, an den Gekreuzigten zu denken, ihn zu lieben, und die Absicht seiner Erlösung zu erfüllen?
Jetzt, da ich in dieser Einsamkeit dem Leiden Jesu nachdenken will, jetzt ist die bequemste Zeit für mich, mein Herz zu untersuchen, meine Gesinnungen zu prüfen, und die Beschaffenheit meiner Andacht zu erforschen. So viel erkenne ich schon bey dem ersten Blicke, den ich in mein Herz thue, daß ich noch weit zurücke bin, daß ich bey wei- tem nicht jenen Ernst, jene Andacht, jene Inbrunst bey der Betrachtung der Leiden Jesu beweise, welche das Herz Pauli erfüllte, so oft er an seinen gekreuzigten Erlöser dachte. Und woher rührt dieser Zustand meines Ge- müths?
Vielleich betrachte ich das Leiden Jesu nur obenhin, ohne die nöthige Bedachtsamkeit, ohne eine öftere Wieder- holung. Kann ich mir wohl vorstellen, daß es hinrei- chend ist, wenn ich einige Augenblicke aus meinem geschäf-
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II. Die Gemüthsfaſſung bey der Betrachtung der Leiden Jeſu.
1 Cor. 2, 2. Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, oh- ne allein Jeſum Chriſtum, den Gekreuzigten.
Bin ich wohl in demjenigen Zuſtande des Gemüths, in welchem ſich Paulus befand, als er zu Corinth das Evangelium predigte? Iſt meine Liebe ge- gen den Erlöſer ſo brünſtig, daß die Betrachtung ſeiner Leiden und ſeines Todes alle andre Gedanken und Ueber- legungen verdunkelt? Iſt es meine größte Weisheit, den zu wiſſen, der für mich geſtorben iſt? Iſt es meine liebſte Beſchäftigung, an den Gekreuzigten zu denken, ihn zu lieben, und die Abſicht ſeiner Erlöſung zu erfüllen?
Jetzt, da ich in dieſer Einſamkeit dem Leiden Jeſu nachdenken will, jetzt iſt die bequemſte Zeit für mich, mein Herz zu unterſuchen, meine Geſinnungen zu prüfen, und die Beſchaffenheit meiner Andacht zu erforſchen. So viel erkenne ich ſchon bey dem erſten Blicke, den ich in mein Herz thue, daß ich noch weit zurücke bin, daß ich bey wei- tem nicht jenen Ernſt, jene Andacht, jene Inbrunſt bey der Betrachtung der Leiden Jeſu beweiſe, welche das Herz Pauli erfüllte, ſo oft er an ſeinen gekreuzigten Erlöſer dachte. Und woher rührt dieſer Zuſtand meines Ge- müths?
Vielleich betrachte ich das Leiden Jeſu nur obenhin, ohne die nöthige Bedachtſamkeit, ohne eine öftere Wieder- holung. Kann ich mir wohl vorſtellen, daß es hinrei- chend iſt, wenn ich einige Augenblicke aus meinem geſchäf-
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II. Die Gemüthsfaſſung
bey der Betrachtung der Leiden Jeſu.
1 Cor. 2, 2.
Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, oh-
ne allein Jeſum Chriſtum, den Gekreuzigten.
Bin ich wohl in demjenigen Zuſtande des Gemüths,
in welchem ſich Paulus befand, als er zu Corinth
das Evangelium predigte? Iſt meine Liebe ge-
gen den Erlöſer ſo brünſtig, daß die Betrachtung ſeiner
Leiden und ſeines Todes alle andre Gedanken und Ueber-
legungen verdunkelt? Iſt es meine größte Weisheit, den
zu wiſſen, der für mich geſtorben iſt? Iſt es meine
liebſte Beſchäftigung, an den Gekreuzigten zu denken, ihn
zu lieben, und die Abſicht ſeiner Erlöſung zu erfüllen?
Jetzt, da ich in dieſer Einſamkeit dem Leiden Jeſu
nachdenken will, jetzt iſt die bequemſte Zeit für mich, mein
Herz zu unterſuchen, meine Geſinnungen zu prüfen, und
die Beſchaffenheit meiner Andacht zu erforſchen. So
viel erkenne ich ſchon bey dem erſten Blicke, den ich in mein
Herz thue, daß ich noch weit zurücke bin, daß ich bey wei-
tem nicht jenen Ernſt, jene Andacht, jene Inbrunſt bey
der Betrachtung der Leiden Jeſu beweiſe, welche das Herz
Pauli erfüllte, ſo oft er an ſeinen gekreuzigten Erlöſer
dachte. Und woher rührt dieſer Zuſtand meines Ge-
müths?
Vielleich betrachte ich das Leiden Jeſu nur obenhin,
ohne die nöthige Bedachtſamkeit, ohne eine öftere Wieder-
holung. Kann ich mir wohl vorſtellen, daß es hinrei-
chend iſt, wenn ich einige Augenblicke aus meinem geſchäf-
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/29>, abgerufen am 26.06.2024.
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