Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.Vierzehnte Betrachtung. treulos worden wäre. Allein nichts von allem diesem kanndem gefallenen Apostel zur Entschuldigung dienen. Die- ser Jünger, welcher so viel Muth und Entschlossenheit hat- te, sich den Anfällen einer ganzen Schaar zu widersetzen, ist jetzt zu schwach, den Angrif einer Thürhüterin und ei- niger Knechte auszuhalten. Vor solchen Personen, wel- che kein Recht hatten, Rechenschaft von ihm zu fordern, entsetzt er sich so sehr, als ob er befürchten müßte, von ih- nen ergriffen und getödtet zu werden. Und wäre seine Verläugnung nur zu einem male erfolgt, so würde er ei- nige Nachsicht verdient haben. Allein die Zeit, welche zwischen den wiederholten Angriffen verstrich, konnte er zum Nachdenken über seinen Fehltritt anwenden. Aber er gieng muthwillig einer neuen Versuchung entgegen, und nachdem er seinen Meister anfänglich durch eine Lüge ver- läugnet hatte, so setzte er endlich einen Schwur und einen Fluch dazu. Mit mitleidiger Liebe und mit dem Bewußtseyn mei- gen-
Vierzehnte Betrachtung. treulos worden wäre. Allein nichts von allem dieſem kanndem gefallenen Apoſtel zur Entſchuldigung dienen. Die- ſer Jünger, welcher ſo viel Muth und Entſchloſſenheit hat- te, ſich den Anfällen einer ganzen Schaar zu widerſetzen, iſt jetzt zu ſchwach, den Angrif einer Thürhüterin und ei- niger Knechte auszuhalten. Vor ſolchen Perſonen, wel- che kein Recht hatten, Rechenſchaft von ihm zu fordern, entſetzt er ſich ſo ſehr, als ob er befürchten müßte, von ih- nen ergriffen und getödtet zu werden. Und wäre ſeine Verläugnung nur zu einem male erfolgt, ſo würde er ei- nige Nachſicht verdient haben. Allein die Zeit, welche zwiſchen den wiederholten Angriffen verſtrich, konnte er zum Nachdenken über ſeinen Fehltritt anwenden. Aber er gieng muthwillig einer neuen Verſuchung entgegen, und nachdem er ſeinen Meiſter anfänglich durch eine Lüge ver- läugnet hatte, ſo ſetzte er endlich einen Schwur und einen Fluch dazu. Mit mitleidiger Liebe und mit dem Bewußtſeyn mei- gen-
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Vierzehnte Betrachtung.
treulos worden wäre. Allein nichts von allem dieſem kann
dem gefallenen Apoſtel zur Entſchuldigung dienen. Die-
ſer Jünger, welcher ſo viel Muth und Entſchloſſenheit hat-
te, ſich den Anfällen einer ganzen Schaar zu widerſetzen,
iſt jetzt zu ſchwach, den Angrif einer Thürhüterin und ei-
niger Knechte auszuhalten. Vor ſolchen Perſonen, wel-
che kein Recht hatten, Rechenſchaft von ihm zu fordern,
entſetzt er ſich ſo ſehr, als ob er befürchten müßte, von ih-
nen ergriffen und getödtet zu werden. Und wäre ſeine
Verläugnung nur zu einem male erfolgt, ſo würde er ei-
nige Nachſicht verdient haben. Allein die Zeit, welche
zwiſchen den wiederholten Angriffen verſtrich, konnte er
zum Nachdenken über ſeinen Fehltritt anwenden. Aber er
gieng muthwillig einer neuen Verſuchung entgegen, und
nachdem er ſeinen Meiſter anfänglich durch eine Lüge ver-
läugnet hatte, ſo ſetzte er endlich einen Schwur und einen
Fluch dazu.
Mit mitleidiger Liebe und mit dem Bewußtſeyn mei-
ner eignen Schwachheit, betrachte ich dieſen Fall des Jün-
gers Jeſu. In welche Tiefe des Verderbens verfiel Pe-
trus, der durch ſeine Erleuchtung, durch ſein edles Herz
und durch die größte Rechtſchaffenheit ſo ſehr über andre
erhaben war! Daß Judas ſich einer ſo abſcheulichen
Sünde ſchuldig machte, war nicht zu verwundern. Er
hatte jederzeit ein arges, heuchleriſches Herz, er hatte ſei-
nen Meiſter nie von ganzer Seele geliebet, und nie eine
Handlung unternommen, die ſeinem Herzen Ehre gemacht
hätte. Aber, daß Petrus, der mit ſo aufrichtiger und
feuriger Liebe ſeinem Erlöſer ergeben war, der eine ſo feſte
Ueberzeugung von der Gottheit Jeſu hatte, der bey allen
Gelegenheiten ſeinen Muth und ſeine Freymüthigkeit offen-
bahrte, daß dieſer Petrus ſo tief, ſo plötzlich fiel, das iſt
erſtaunenswürdig. Wo ſind nun die groſſen und unei-
gen-
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