Um die Nordseite von Antibes herum liegt eine völlig kahle Gegend von schönen Kornfeldern. Etwas weiter hin, nordöstlich von der Stadt, ist das Land so stark mit Feigenbäumen besetzt, daß sie einen Wald ausmachen.
Etwa eine Stunde weit jenseits Antibes, kömmt man nach Cagne, einem kleinen Dorfe von seltsa- mer, aber ausnehmend schöner Lage. Mitten in ei- nem engen, aber sehr fruchtbaren romantischen Thale liegt ein steiler felsiger Hügel, auf dessen Graat oder Kamm (Crete) dieser Ort gebaut ist, den man von weitem für weisse Felsenklippen hält. Auf der ober- sten Höhe des Hügels erhebt sich ein ansehnliches und schön gebautes Schloß. Weil mein Postillon hier ausspannte, hatte ich Zeit, den Ort näher in Augen- schein zu nehmen. Von weitem fällt er schön in die Augen; in der Nähe ist es, die reizende Lage ausge- nommen, der elendeste Ort, den ich je gesehen habe.
Die auf kahle Felsen gebauten massiven Häuser schienen mir selbst in der Nähe bloße Ruinen ehemali- ger Häuser zu seyn; denn es ist kein einziges von die- sen Häusern, an dem man nicht halb eingefallenes mit Epheu bewachsenes Gemäuer sähe. An keinem ein- zigen siehet man eine ordentliche Thüre, oder ein rech- tes Fenster; wirklich hielt ich, so wie es auch mein Bedienter that, den Ort für zerstört und verlassen, bis ich zu meiner Verwunderung Leute aus den Lö- chern dieser Gemäuer, welche ich nun für die Haus- thüren halten mußte, hervorkriechen sah. Es war mir, als wenn ich plötzlich in einen fremden Welttheil versetzt worden, wo die Menschen ihre Wohnungen ganz anders als in dem unsrigen eingerichtet haben. Es
ist
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gethanen Reiſe.
Um die Nordſeite von Antibes herum liegt eine voͤllig kahle Gegend von ſchoͤnen Kornfeldern. Etwas weiter hin, nordoͤſtlich von der Stadt, iſt das Land ſo ſtark mit Feigenbaͤumen beſetzt, daß ſie einen Wald ausmachen.
Etwa eine Stunde weit jenſeits Antibes, koͤmmt man nach Cagne, einem kleinen Dorfe von ſeltſa- mer, aber ausnehmend ſchoͤner Lage. Mitten in ei- nem engen, aber ſehr fruchtbaren romantiſchen Thale liegt ein ſteiler felſiger Huͤgel, auf deſſen Graat oder Kamm (Crête) dieſer Ort gebaut iſt, den man von weitem fuͤr weiſſe Felſenklippen haͤlt. Auf der ober- ſten Hoͤhe des Huͤgels erhebt ſich ein anſehnliches und ſchoͤn gebautes Schloß. Weil mein Poſtillon hier ausſpannte, hatte ich Zeit, den Ort naͤher in Augen- ſchein zu nehmen. Von weitem faͤllt er ſchoͤn in die Augen; in der Naͤhe iſt es, die reizende Lage ausge- nommen, der elendeſte Ort, den ich je geſehen habe.
Die auf kahle Felſen gebauten maſſiven Haͤuſer ſchienen mir ſelbſt in der Naͤhe bloße Ruinen ehemali- ger Haͤuſer zu ſeyn; denn es iſt kein einziges von die- ſen Haͤuſern, an dem man nicht halb eingefallenes mit Epheu bewachſenes Gemaͤuer ſaͤhe. An keinem ein- zigen ſiehet man eine ordentliche Thuͤre, oder ein rech- tes Fenſter; wirklich hielt ich, ſo wie es auch mein Bedienter that, den Ort fuͤr zerſtoͤrt und verlaſſen, bis ich zu meiner Verwunderung Leute aus den Loͤ- chern dieſer Gemaͤuer, welche ich nun fuͤr die Haus- thuͤren halten mußte, hervorkriechen ſah. Es war mir, als wenn ich ploͤtzlich in einen fremden Welttheil verſetzt worden, wo die Menſchen ihre Wohnungen ganz anders als in dem unſrigen eingerichtet haben. Es
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gethanen Reiſe.
Um die Nordſeite von Antibes herum liegt eine
voͤllig kahle Gegend von ſchoͤnen Kornfeldern. Etwas
weiter hin, nordoͤſtlich von der Stadt, iſt das Land ſo
ſtark mit Feigenbaͤumen beſetzt, daß ſie einen Wald
ausmachen.
Etwa eine Stunde weit jenſeits Antibes, koͤmmt
man nach Cagne, einem kleinen Dorfe von ſeltſa-
mer, aber ausnehmend ſchoͤner Lage. Mitten in ei-
nem engen, aber ſehr fruchtbaren romantiſchen Thale
liegt ein ſteiler felſiger Huͤgel, auf deſſen Graat oder
Kamm (Crête) dieſer Ort gebaut iſt, den man von
weitem fuͤr weiſſe Felſenklippen haͤlt. Auf der ober-
ſten Hoͤhe des Huͤgels erhebt ſich ein anſehnliches und
ſchoͤn gebautes Schloß. Weil mein Poſtillon hier
ausſpannte, hatte ich Zeit, den Ort naͤher in Augen-
ſchein zu nehmen. Von weitem faͤllt er ſchoͤn in die
Augen; in der Naͤhe iſt es, die reizende Lage ausge-
nommen, der elendeſte Ort, den ich je geſehen habe.
Die auf kahle Felſen gebauten maſſiven Haͤuſer
ſchienen mir ſelbſt in der Naͤhe bloße Ruinen ehemali-
ger Haͤuſer zu ſeyn; denn es iſt kein einziges von die-
ſen Haͤuſern, an dem man nicht halb eingefallenes mit
Epheu bewachſenes Gemaͤuer ſaͤhe. An keinem ein-
zigen ſiehet man eine ordentliche Thuͤre, oder ein rech-
tes Fenſter; wirklich hielt ich, ſo wie es auch mein
Bedienter that, den Ort fuͤr zerſtoͤrt und verlaſſen,
bis ich zu meiner Verwunderung Leute aus den Loͤ-
chern dieſer Gemaͤuer, welche ich nun fuͤr die Haus-
thuͤren halten mußte, hervorkriechen ſah. Es war
mir, als wenn ich ploͤtzlich in einen fremden Welttheil
verſetzt worden, wo die Menſchen ihre Wohnungen
ganz anders als in dem unſrigen eingerichtet haben. Es
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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/189>, abgerufen am 21.11.2024.
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