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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Aus
tere Bearbeitung nach und nach entstanden, wären.
Aber man glaube nicht, daß diese Leichtigkeit ohne
Mühe erhalten worden. Jnsgemein ist das, was
am leichtesten begriffen wird, dem Künstler am
schweersten worden. Man sehe hierüber, was der
scharfsinnige Verfasser des Versuchs über Popens
Genie und Schriften sagt. [Spaltenumbruch] (+) Folgendes ist dar-
aus genommen. "Moliere soll ganze Tage über
ein schikliches Beywort, oder über einen Reim zu-
gebracht haben, ob in seinen Versen gleich alle Flüs-
sigkeit und Freyheit des natürlichen Gesprächs herr-
schet. -- Man erzählt, Addison sey erstaunlich ei-
gen in Ausputzung seiner prosaischen Arbeiten ge-
wesen, daß er, nachdem der ganze Abdruk einer
Auflage bey nahe geschehen war, den Druk verhin-
dern wollte, um eine neue Präposition oder Con-
junktion einzuschalten." Horaz hielt die Bemer-
kung alles dessen, was zur vollkommenen Ausar-
beitung gehört, für so wenig leicht, daß er dem
Künstler das Nonum prematur in annum anräth.

Die Nothwendigkeit einer langen Zurükhaltung
des Werks, das vollkommen erscheinen soll, läßt
sich am leichtesten daher begreifen. Nur an den
Dingen, die uns durch den täglichen Gebrauch sehr
geläufig worden, erkennen wir jeden kleinen Man-
gel, und jede kleine Vollkommenheit. Also auch in
Werken des Geschmaks. Erst alsdenn, wenn man
sie, wie man es nennt, auswendig kann, ist man
im Stande, alle Kleinigkeiten zu bemerken. Die-
ses aber ist eben das, worauf es bey der Ausarbei-
tung ankömmt. Wer also in der Ausarbeitung
nichts versäumen will, muß sein Werk, nachdem
es durch die Ausführung alle seine Theile bekommen
hat, noch eine hinlängliche Zeit in seinem Busen
herum tragen; damit er es oft so wol im Ganzen,
als in den Theilen übersehen könne. Nur diese
genaue Bekanntschaft mit seinem Werke setzet den
Künstler in Stande, die Ausarbeitung desselben
glüklich zu vollführen.

Eine wichtige Sache dabey ist das kalte Blut.
So wichtig das Feuer der Einbildungskraft beym
Entwurf eines Werks ist, so schädlich ist es der
Ausarbeitung, davon wird der Philosoph psycholo-
gische Gründe angeben. Eine erhitzte Phantasie
sieht in jedem Gegenstand mehr, als würklich darin
[Spaltenumbruch]

Aus
ist. Der Künstler also, der mit Feuer entwirft,
läßt manches aus; weil er es sieht, ohne daß es
würklich vorhanden ist. Könnte er die, für welche
er arbeitet, beym Anschauen seines Werks in eben
die Fassung setzen, in welcher er bey Verfertigung
desselben gewesen ist, so würde die Ausarbeitung
überflüßig werden.

Man behalte also jedes Werk so lange an sich,
bis man es ohne merkliche Regung der väterlichen
Zärtlichkeit, ohne Erneuerung des lebhaften Ge-
fühls, in welchem es entworfen worden ist, ganz
übersehen kann; bis es uns selbst einigermaßen
fremd geworden ist. Alsdenn ist das Urtheil davon
frey, und die Ausarbeitung möglich.

Dieser Theil der Kunst hat aber auch seine Ab-
wege. Man kann ein Messer, um ihm die höchste
Schärfe zu geben, so lange schleifen, bis aller Stahl
weggeschliffen ist; und so kann durch eine übertrie-
bene Ausarbeitung ein Werk viel von den höhern
Kräften, die es gehabt hat, verlieren. Wer glaubt,
daß er jede Kleinigkeit, die er fühlt, ausdrüken
wolle, der irret sich, und wird durch die dahin abzie-
lende Ausarbeitung sein Werk verderben. Es
kömmt darauf an, daß auch von den kleinern
Schönheiten nur die wesentlichsten glüklich in ein
Werk gebracht werden; diese machen, daß man
sich die andern hinzu denkt. Eine Anekdote, die
ich von einem guten Künstler habe, ist hier an ih-
rer Stelle.

Ein Mahler hatte ein Gemählde von David Tei-
niers
copirt; und fand, nachdem er allen möglichen
Fleis darauf gewendet hatte, seine Copie ohne Hal-
tung. Stük für Stük, jeden Theil, für sich be-
trachtet, fand man nicht, daß etwas fehlte; den-
noch fehlte dem Ganzen fast alles. Man ruft das
Aug eines Freundes zu Hülfe, setzt Original und
Copie neben einander, damit ein unpartheyisches
Aug entdeke, was dieser fehle. Hier zeiget sich ei-
ne Ungleichheit in einem unerheblich scheinenden
Umstand. Jm Vorgrund des Originals hieng ein
Stük weiße Leinewand an einer Stange, und dieser
kleine Umstand war in der Copie ausgelassen. Der
Kenner kam auf die Vermuthung, daß dieses ein
wichtiger Umstand seyn möchte. Man klebte in
der Copie nur etwas weißes Papier an die Stelle,

wo
(+) Man kann dieses in der bey Nicolai, in Berlin,
heraus gekommenen Sammlung vermischter Schriften
[Spaltenumbruch] zur Beförderung der schönen Wissenschaften, nachlesen.
S. den VI. Theil S. 136. u. s. f.

[Spaltenumbruch]

Aus
tere Bearbeitung nach und nach entſtanden, waͤren.
Aber man glaube nicht, daß dieſe Leichtigkeit ohne
Muͤhe erhalten worden. Jnsgemein iſt das, was
am leichteſten begriffen wird, dem Kuͤnſtler am
ſchweerſten worden. Man ſehe hieruͤber, was der
ſcharfſinnige Verfaſſer des Verſuchs uͤber Popens
Genie und Schriften ſagt. [Spaltenumbruch] (†) Folgendes iſt dar-
aus genommen. „Moliere ſoll ganze Tage uͤber
ein ſchikliches Beywort, oder uͤber einen Reim zu-
gebracht haben, ob in ſeinen Verſen gleich alle Fluͤſ-
ſigkeit und Freyheit des natuͤrlichen Geſpraͤchs herr-
ſchet. — Man erzaͤhlt, Addiſon ſey erſtaunlich ei-
gen in Ausputzung ſeiner proſaiſchen Arbeiten ge-
weſen, daß er, nachdem der ganze Abdruk einer
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dern wollte, um eine neue Praͤpoſition oder Con-
junktion einzuſchalten.‟ Horaz hielt die Bemer-
kung alles deſſen, was zur vollkommenen Ausar-
beitung gehoͤrt, fuͤr ſo wenig leicht, daß er dem
Kuͤnſtler das Nonum prematur in annum anraͤth.

Die Nothwendigkeit einer langen Zuruͤkhaltung
des Werks, das vollkommen erſcheinen ſoll, laͤßt
ſich am leichteſten daher begreifen. Nur an den
Dingen, die uns durch den taͤglichen Gebrauch ſehr
gelaͤufig worden, erkennen wir jeden kleinen Man-
gel, und jede kleine Vollkommenheit. Alſo auch in
Werken des Geſchmaks. Erſt alsdenn, wenn man
ſie, wie man es nennt, auswendig kann, iſt man
im Stande, alle Kleinigkeiten zu bemerken. Die-
ſes aber iſt eben das, worauf es bey der Ausarbei-
tung ankoͤmmt. Wer alſo in der Ausarbeitung
nichts verſaͤumen will, muß ſein Werk, nachdem
es durch die Ausfuͤhrung alle ſeine Theile bekommen
hat, noch eine hinlaͤngliche Zeit in ſeinem Buſen
herum tragen; damit er es oft ſo wol im Ganzen,
als in den Theilen uͤberſehen koͤnne. Nur dieſe
genaue Bekanntſchaft mit ſeinem Werke ſetzet den
Kuͤnſtler in Stande, die Ausarbeitung deſſelben
gluͤklich zu vollfuͤhren.

Eine wichtige Sache dabey iſt das kalte Blut.
So wichtig das Feuer der Einbildungskraft beym
Entwurf eines Werks iſt, ſo ſchaͤdlich iſt es der
Ausarbeitung, davon wird der Philoſoph pſycholo-
giſche Gruͤnde angeben. Eine erhitzte Phantaſie
ſieht in jedem Gegenſtand mehr, als wuͤrklich darin
[Spaltenumbruch]

Aus
iſt. Der Kuͤnſtler alſo, der mit Feuer entwirft,
laͤßt manches aus; weil er es ſieht, ohne daß es
wuͤrklich vorhanden iſt. Koͤnnte er die, fuͤr welche
er arbeitet, beym Anſchauen ſeines Werks in eben
die Faſſung ſetzen, in welcher er bey Verfertigung
deſſelben geweſen iſt, ſo wuͤrde die Ausarbeitung
uͤberfluͤßig werden.

Man behalte alſo jedes Werk ſo lange an ſich,
bis man es ohne merkliche Regung der vaͤterlichen
Zaͤrtlichkeit, ohne Erneuerung des lebhaften Ge-
fuͤhls, in welchem es entworfen worden iſt, ganz
uͤberſehen kann; bis es uns ſelbſt einigermaßen
fremd geworden iſt. Alsdenn iſt das Urtheil davon
frey, und die Ausarbeitung moͤglich.

Dieſer Theil der Kunſt hat aber auch ſeine Ab-
wege. Man kann ein Meſſer, um ihm die hoͤchſte
Schaͤrfe zu geben, ſo lange ſchleifen, bis aller Stahl
weggeſchliffen iſt; und ſo kann durch eine uͤbertrie-
bene Ausarbeitung ein Werk viel von den hoͤhern
Kraͤften, die es gehabt hat, verlieren. Wer glaubt,
daß er jede Kleinigkeit, die er fuͤhlt, ausdruͤken
wolle, der irret ſich, und wird durch die dahin abzie-
lende Ausarbeitung ſein Werk verderben. Es
koͤmmt darauf an, daß auch von den kleinern
Schoͤnheiten nur die weſentlichſten gluͤklich in ein
Werk gebracht werden; dieſe machen, daß man
ſich die andern hinzu denkt. Eine Anekdote, die
ich von einem guten Kuͤnſtler habe, iſt hier an ih-
rer Stelle.

Ein Mahler hatte ein Gemaͤhlde von David Tei-
niers
copirt; und fand, nachdem er allen moͤglichen
Fleis darauf gewendet hatte, ſeine Copie ohne Hal-
tung. Stuͤk fuͤr Stuͤk, jeden Theil, fuͤr ſich be-
trachtet, fand man nicht, daß etwas fehlte; den-
noch fehlte dem Ganzen faſt alles. Man ruft das
Aug eines Freundes zu Huͤlfe, ſetzt Original und
Copie neben einander, damit ein unpartheyiſches
Aug entdeke, was dieſer fehle. Hier zeiget ſich ei-
ne Ungleichheit in einem unerheblich ſcheinenden
Umſtand. Jm Vorgrund des Originals hieng ein
Stuͤk weiße Leinewand an einer Stange, und dieſer
kleine Umſtand war in der Copie ausgelaſſen. Der
Kenner kam auf die Vermuthung, daß dieſes ein
wichtiger Umſtand ſeyn moͤchte. Man klebte in
der Copie nur etwas weißes Papier an die Stelle,

wo
(†) Man kann dieſes in der bey Nicolai, in Berlin,
heraus gekommenen Sammlung vermiſchter Schriften
[Spaltenumbruch] zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, nachleſen.
S. den VI. Theil S. 136. u. ſ. f.
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[96/0108] Aus Aus tere Bearbeitung nach und nach entſtanden, waͤren. Aber man glaube nicht, daß dieſe Leichtigkeit ohne Muͤhe erhalten worden. Jnsgemein iſt das, was am leichteſten begriffen wird, dem Kuͤnſtler am ſchweerſten worden. Man ſehe hieruͤber, was der ſcharfſinnige Verfaſſer des Verſuchs uͤber Popens Genie und Schriften ſagt. (†) Folgendes iſt dar- aus genommen. „Moliere ſoll ganze Tage uͤber ein ſchikliches Beywort, oder uͤber einen Reim zu- gebracht haben, ob in ſeinen Verſen gleich alle Fluͤſ- ſigkeit und Freyheit des natuͤrlichen Geſpraͤchs herr- ſchet. — Man erzaͤhlt, Addiſon ſey erſtaunlich ei- gen in Ausputzung ſeiner proſaiſchen Arbeiten ge- weſen, daß er, nachdem der ganze Abdruk einer Auflage bey nahe geſchehen war, den Druk verhin- dern wollte, um eine neue Praͤpoſition oder Con- junktion einzuſchalten.‟ Horaz hielt die Bemer- kung alles deſſen, was zur vollkommenen Ausar- beitung gehoͤrt, fuͤr ſo wenig leicht, daß er dem Kuͤnſtler das Nonum prematur in annum anraͤth. Die Nothwendigkeit einer langen Zuruͤkhaltung des Werks, das vollkommen erſcheinen ſoll, laͤßt ſich am leichteſten daher begreifen. Nur an den Dingen, die uns durch den taͤglichen Gebrauch ſehr gelaͤufig worden, erkennen wir jeden kleinen Man- gel, und jede kleine Vollkommenheit. Alſo auch in Werken des Geſchmaks. Erſt alsdenn, wenn man ſie, wie man es nennt, auswendig kann, iſt man im Stande, alle Kleinigkeiten zu bemerken. Die- ſes aber iſt eben das, worauf es bey der Ausarbei- tung ankoͤmmt. Wer alſo in der Ausarbeitung nichts verſaͤumen will, muß ſein Werk, nachdem es durch die Ausfuͤhrung alle ſeine Theile bekommen hat, noch eine hinlaͤngliche Zeit in ſeinem Buſen herum tragen; damit er es oft ſo wol im Ganzen, als in den Theilen uͤberſehen koͤnne. Nur dieſe genaue Bekanntſchaft mit ſeinem Werke ſetzet den Kuͤnſtler in Stande, die Ausarbeitung deſſelben gluͤklich zu vollfuͤhren. Eine wichtige Sache dabey iſt das kalte Blut. So wichtig das Feuer der Einbildungskraft beym Entwurf eines Werks iſt, ſo ſchaͤdlich iſt es der Ausarbeitung, davon wird der Philoſoph pſycholo- giſche Gruͤnde angeben. Eine erhitzte Phantaſie ſieht in jedem Gegenſtand mehr, als wuͤrklich darin iſt. Der Kuͤnſtler alſo, der mit Feuer entwirft, laͤßt manches aus; weil er es ſieht, ohne daß es wuͤrklich vorhanden iſt. Koͤnnte er die, fuͤr welche er arbeitet, beym Anſchauen ſeines Werks in eben die Faſſung ſetzen, in welcher er bey Verfertigung deſſelben geweſen iſt, ſo wuͤrde die Ausarbeitung uͤberfluͤßig werden. Man behalte alſo jedes Werk ſo lange an ſich, bis man es ohne merkliche Regung der vaͤterlichen Zaͤrtlichkeit, ohne Erneuerung des lebhaften Ge- fuͤhls, in welchem es entworfen worden iſt, ganz uͤberſehen kann; bis es uns ſelbſt einigermaßen fremd geworden iſt. Alsdenn iſt das Urtheil davon frey, und die Ausarbeitung moͤglich. Dieſer Theil der Kunſt hat aber auch ſeine Ab- wege. Man kann ein Meſſer, um ihm die hoͤchſte Schaͤrfe zu geben, ſo lange ſchleifen, bis aller Stahl weggeſchliffen iſt; und ſo kann durch eine uͤbertrie- bene Ausarbeitung ein Werk viel von den hoͤhern Kraͤften, die es gehabt hat, verlieren. Wer glaubt, daß er jede Kleinigkeit, die er fuͤhlt, ausdruͤken wolle, der irret ſich, und wird durch die dahin abzie- lende Ausarbeitung ſein Werk verderben. Es koͤmmt darauf an, daß auch von den kleinern Schoͤnheiten nur die weſentlichſten gluͤklich in ein Werk gebracht werden; dieſe machen, daß man ſich die andern hinzu denkt. Eine Anekdote, die ich von einem guten Kuͤnſtler habe, iſt hier an ih- rer Stelle. Ein Mahler hatte ein Gemaͤhlde von David Tei- niers copirt; und fand, nachdem er allen moͤglichen Fleis darauf gewendet hatte, ſeine Copie ohne Hal- tung. Stuͤk fuͤr Stuͤk, jeden Theil, fuͤr ſich be- trachtet, fand man nicht, daß etwas fehlte; den- noch fehlte dem Ganzen faſt alles. Man ruft das Aug eines Freundes zu Huͤlfe, ſetzt Original und Copie neben einander, damit ein unpartheyiſches Aug entdeke, was dieſer fehle. Hier zeiget ſich ei- ne Ungleichheit in einem unerheblich ſcheinenden Umſtand. Jm Vorgrund des Originals hieng ein Stuͤk weiße Leinewand an einer Stange, und dieſer kleine Umſtand war in der Copie ausgelaſſen. Der Kenner kam auf die Vermuthung, daß dieſes ein wichtiger Umſtand ſeyn moͤchte. Man klebte in der Copie nur etwas weißes Papier an die Stelle, wo (†) Man kann dieſes in der bey Nicolai, in Berlin, heraus gekommenen Sammlung vermiſchter Schriften zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, nachleſen. S. den VI. Theil S. 136. u. ſ. f.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/108>, abgerufen am 28.04.2024.