Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Beg men; inzwischen aber dem Philosophen, der weni-ger gläubig ist, folgendes ins Ohr sagen. Bey der unauf hörlichen Anstrengung der Vor- Hieraus nun läßt sich allerdings begreifen, wo- Einem Werk, oder einem Theil desselben, das in Beg chen Lichts, in welchem der Künstler seinen Gegen-stand gesehen hat, eingepräget. Alles scheinet aus einer reichen Quelle zu fließen; jedes Wort, jeder Strich ist kräftig, und würkt gerade das, was er würken soll. Man merkt es, daß dem Künstler alles leicht gewesen, daß er nichts gesucht, sondern jedes an seinem Orte gesehen hat; daß er ungedul- dig gewesen ist, einen Gegenstand, der seine ganze Seele so lebhaft erfüllt hatte, außer sich darzustellen. Man findet darin nichts mit Sorgfalt abgemes- Der Künstler, dem es nicht an Verstand und Der Grund aller Begeisterung liegt in einem der (+) Diese Anekdote findet sich in einem der Briefe
berühmter Künstler, welche vor wenig Jahren in Jta- [Spaltenumbruch] lien heraus gekommen, und, wo ich nicht irre, in dem 3. Theil der Sammlung. [Spaltenumbruch] Beg men; inzwiſchen aber dem Philoſophen, der weni-ger glaͤubig iſt, folgendes ins Ohr ſagen. Bey der unauf hoͤrlichen Anſtrengung der Vor- Hieraus nun laͤßt ſich allerdings begreifen, wo- Einem Werk, oder einem Theil deſſelben, das in Beg chen Lichts, in welchem der Kuͤnſtler ſeinen Gegen-ſtand geſehen hat, eingepraͤget. Alles ſcheinet aus einer reichen Quelle zu fließen; jedes Wort, jeder Strich iſt kraͤftig, und wuͤrkt gerade das, was er wuͤrken ſoll. Man merkt es, daß dem Kuͤnſtler alles leicht geweſen, daß er nichts geſucht, ſondern jedes an ſeinem Orte geſehen hat; daß er ungedul- dig geweſen iſt, einen Gegenſtand, der ſeine ganze Seele ſo lebhaft erfuͤllt hatte, außer ſich darzuſtellen. Man findet darin nichts mit Sorgfalt abgemeſ- Der Kuͤnſtler, dem es nicht an Verſtand und Der Grund aller Begeiſterung liegt in einem der (†) Dieſe Anekdote findet ſich in einem der Briefe
beruͤhmter Kuͤnſtler, welche vor wenig Jahren in Jta- [Spaltenumbruch] lien heraus gekommen, und, wo ich nicht irre, in dem 3. Theil der Sammlung. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0152" n="140"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Beg</hi></fw><lb/> men; inzwiſchen aber dem Philoſophen, der weni-<lb/> ger glaͤubig iſt, folgendes ins Ohr ſagen.</p><lb/> <p>Bey der unauf hoͤrlichen Anſtrengung der Vor-<lb/> ſtellungskraͤfte auf einen einzigen Gegenſtand ge-<lb/> ſchieht es wol, und vielleicht auch von ohngefehr,<lb/> ſo gar im Traume, daß ein ungewoͤhnlich heller Ge-<lb/> danken davon hervorkommt. Die große Begierde,<lb/> mit der man den Gegenſtand ſchon ſo lange in<lb/> einem hellern Lichte zu ſehen gewuͤnſcht, wird nun<lb/> ploͤtzlich auf das Lebhafteſte gereizt; nun werden alle<lb/> Nerven geſpannt; die Aufmerkſamkeit wird jedem<lb/> andern Gegenſtand entzogen; alle Vorſtellungen,<lb/> die nicht mit der einzigen intreſſanten verbunden<lb/> ſind, ſinken in die Dunkelheit. Selbſt die Wuͤr-<lb/> kung der aͤußern Sinnen wird ſo geſchwaͤcht, daß<lb/> der Geiſt daher keine Zerſtreuung zu befuͤrchten hat.<lb/> Deſto heller und lebhafter wird nun jeder Begriff,<lb/> der ſich auf den Hauptgegenſtand bezieht; itzt treten<lb/> alle geſammelte Vorſtellungen aus der Dunkelheit<lb/> empor, und, wie im naͤchtlichen Traum, wenn alle<lb/> Zerſtreuung gaͤnzlich auf hoͤret, das Bild, welches<lb/> wir wachend in dunkele Duͤnſte eingehuͤllt geſehen,<lb/> in der Klarheit des helleſten Tages, vor unſern Au-<lb/> gen ſteht, ſo ſieht der Kuͤnſtler in dem fuͤßen Traum<lb/> der Begeiſterung, den gewuͤnſchten Gegenſtand vor<lb/> ſeinem Geſichte; er vernimmt Toͤne, wenn alles<lb/> ſtill iſt, und fuͤhlt einen Koͤrper, der blos in ſeiner<lb/> Einbildung die Wuͤrklichkeit hat.</p><lb/> <p>Hieraus nun laͤßt ſich allerdings begreifen, wo-<lb/> her die erhoͤhten Seelenkraͤfte in dem Zuſtand der<lb/> Begeiſterung ihre Staͤrke bekommen, und warum<lb/> dieſe einen ſo vortheilhaften Einfluß auf die<lb/> Werke des Geſchmaks habe; woher es komme,<lb/> daß jede einzele Vorſtellung ein ungewoͤhnliches Le-<lb/> den bekoͤmmt; warum abweſende Dinge, als ge-<lb/> genwaͤrtig, vergangene oder zukuͤnftige, als itzt vor-<lb/> handen erſcheinen. Hat aber der Kuͤnſtler in der<lb/> Begeiſterung ſo lebhafte und ſo vollkommene Vor-<lb/> ſtellungen, ſo wird es ihm auch leicht, ſie nach<lb/> Maaßgebung ſeiner Kunſt, es ſey durch Worte, oder<lb/> durch Zeichnung und Farbe, oder durch bloße Toͤne<lb/> zu aͤußern.</p><lb/> <p>Einem Werk, oder einem Theil deſſelben, das in<lb/> der Begeiſterung verfertigt worden, ſind deutliche<lb/> Spuren der großen Lebhaftigkeit und des herrli-<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Beg</hi></fw><lb/> chen Lichts, in welchem der Kuͤnſtler ſeinen Gegen-<lb/> ſtand geſehen hat, eingepraͤget. Alles ſcheinet aus<lb/> einer reichen Quelle zu fließen; jedes Wort, jeder<lb/> Strich iſt kraͤftig, und wuͤrkt gerade das, was er<lb/> wuͤrken ſoll. 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Ohne Vor-<lb/> ſaz und Ueberlegung ordnet ſeine Seele jeden Theil<lb/> auf das beſte an, bildet jeden auf das lebhafteſte<lb/> aus. Seine Feder oder Pinſel, ſeine Hand oder<lb/> ſein Mund, ſind nicht ſchnell genug, das darzuſtel-<lb/> len, was ihm dargeboten wird. Es ſah einmal<lb/> jemand dem <hi rendition="#fr">Michel Angelo</hi> zu, als er an einem<lb/> Marmorbild arbeitete. Jn dem Blik des Kuͤnſt-<lb/> lers war etwas wildes, der Hammer ſtuͤrzte in<lb/> ſeiner ſtarken Fauſt mit Macht auf den Meißel,<lb/> und die abgeſchlagene Stuͤke Marmor flogen weit<lb/> durch die Luft. Man haͤtte denken ſollen, daß der<lb/> ganze Blok auf jeden Schlag haͤtte in Stuͤken ge-<lb/> hen ſollen. <cb/> <note place="foot" n="(†)">Dieſe Anekdote findet ſich in einem der Briefe<lb/> beruͤhmter Kuͤnſtler, welche vor wenig Jahren in Jta-<lb/><cb/> lien heraus gekommen, und, wo ich nicht irre, in dem<lb/> 3. Theil der Sammlung.</note> Damals war dieſer große Kuͤnſtler<lb/> in der Begeiſterung. 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Beg
Beg
men; inzwiſchen aber dem Philoſophen, der weni-
ger glaͤubig iſt, folgendes ins Ohr ſagen.
Bey der unauf hoͤrlichen Anſtrengung der Vor-
ſtellungskraͤfte auf einen einzigen Gegenſtand ge-
ſchieht es wol, und vielleicht auch von ohngefehr,
ſo gar im Traume, daß ein ungewoͤhnlich heller Ge-
danken davon hervorkommt. Die große Begierde,
mit der man den Gegenſtand ſchon ſo lange in
einem hellern Lichte zu ſehen gewuͤnſcht, wird nun
ploͤtzlich auf das Lebhafteſte gereizt; nun werden alle
Nerven geſpannt; die Aufmerkſamkeit wird jedem
andern Gegenſtand entzogen; alle Vorſtellungen,
die nicht mit der einzigen intreſſanten verbunden
ſind, ſinken in die Dunkelheit. Selbſt die Wuͤr-
kung der aͤußern Sinnen wird ſo geſchwaͤcht, daß
der Geiſt daher keine Zerſtreuung zu befuͤrchten hat.
Deſto heller und lebhafter wird nun jeder Begriff,
der ſich auf den Hauptgegenſtand bezieht; itzt treten
alle geſammelte Vorſtellungen aus der Dunkelheit
empor, und, wie im naͤchtlichen Traum, wenn alle
Zerſtreuung gaͤnzlich auf hoͤret, das Bild, welches
wir wachend in dunkele Duͤnſte eingehuͤllt geſehen,
in der Klarheit des helleſten Tages, vor unſern Au-
gen ſteht, ſo ſieht der Kuͤnſtler in dem fuͤßen Traum
der Begeiſterung, den gewuͤnſchten Gegenſtand vor
ſeinem Geſichte; er vernimmt Toͤne, wenn alles
ſtill iſt, und fuͤhlt einen Koͤrper, der blos in ſeiner
Einbildung die Wuͤrklichkeit hat.
Hieraus nun laͤßt ſich allerdings begreifen, wo-
her die erhoͤhten Seelenkraͤfte in dem Zuſtand der
Begeiſterung ihre Staͤrke bekommen, und warum
dieſe einen ſo vortheilhaften Einfluß auf die
Werke des Geſchmaks habe; woher es komme,
daß jede einzele Vorſtellung ein ungewoͤhnliches Le-
den bekoͤmmt; warum abweſende Dinge, als ge-
genwaͤrtig, vergangene oder zukuͤnftige, als itzt vor-
handen erſcheinen. Hat aber der Kuͤnſtler in der
Begeiſterung ſo lebhafte und ſo vollkommene Vor-
ſtellungen, ſo wird es ihm auch leicht, ſie nach
Maaßgebung ſeiner Kunſt, es ſey durch Worte, oder
durch Zeichnung und Farbe, oder durch bloße Toͤne
zu aͤußern.
Einem Werk, oder einem Theil deſſelben, das in
der Begeiſterung verfertigt worden, ſind deutliche
Spuren der großen Lebhaftigkeit und des herrli-
chen Lichts, in welchem der Kuͤnſtler ſeinen Gegen-
ſtand geſehen hat, eingepraͤget. Alles ſcheinet aus
einer reichen Quelle zu fließen; jedes Wort, jeder
Strich iſt kraͤftig, und wuͤrkt gerade das, was er
wuͤrken ſoll. Man merkt es, daß dem Kuͤnſtler
alles leicht geweſen, daß er nichts geſucht, ſondern
jedes an ſeinem Orte geſehen hat; daß er ungedul-
dig geweſen iſt, einen Gegenſtand, der ſeine ganze
Seele ſo lebhaft erfuͤllt hatte, außer ſich darzuſtellen.
Man findet darin nichts mit Sorgfalt abgemeſ-
ſen, nichts das durch geſuchte Verbindungen, ſich
an das naͤchſte anſchließt. Alles folget Schlag auf
Schlag, wir werden mit in das Feuer hingeriſſen,
das in der Seele des Kuͤnſtlers brennt, oder in das
ſanfte Entzuͤken geſezt, das ihn außer ſich ſelbſt ge-
bracht hat.
Der Kuͤnſtler, dem es nicht an Verſtand und
Genie fehlt, kann des guten Fortganges ſeines
Werks verſichert ſeyn, ſo bald er in Begeiſterung
geſezt iſt; denn er hat alsdenn fuͤr nichts mehr
zu ſorgen: er darf ſich nur ſeiner Empfindung
uͤberlaſſen. Alles, was er auszudruͤken hat, liegt
in ſeiner Phantaſie deutlich vor ihm. Ohne Vor-
ſaz und Ueberlegung ordnet ſeine Seele jeden Theil
auf das beſte an, bildet jeden auf das lebhafteſte
aus. Seine Feder oder Pinſel, ſeine Hand oder
ſein Mund, ſind nicht ſchnell genug, das darzuſtel-
len, was ihm dargeboten wird. Es ſah einmal
jemand dem Michel Angelo zu, als er an einem
Marmorbild arbeitete. Jn dem Blik des Kuͤnſt-
lers war etwas wildes, der Hammer ſtuͤrzte in
ſeiner ſtarken Fauſt mit Macht auf den Meißel,
und die abgeſchlagene Stuͤke Marmor flogen weit
durch die Luft. Man haͤtte denken ſollen, daß der
ganze Blok auf jeden Schlag haͤtte in Stuͤken ge-
hen ſollen.
(†) Damals war dieſer große Kuͤnſtler
in der Begeiſterung. Er ſah das Bild, welches
er darſtellen wollte, ſchon in dem Marmorblok, un-
geduldig es heraus zu bringen, ſchlug er kuͤhn die
uͤberfluͤßigen Theile weg, und war ſicher, nichts von
dem Bilde, das er ſah, weg zu hauen. So feu-
rig und ſo ſicher iſt jeder Kuͤnſtler, dem die Be-
geiſterung ein Bild in die Phantaſie gemahlt hat.
Der Grund aller Begeiſterung liegt in einem
ſtarken Reiz des Gegenſtandes, der die ganze Kraft
der
(†) Dieſe Anekdote findet ſich in einem der Briefe
beruͤhmter Kuͤnſtler, welche vor wenig Jahren in Jta-
lien heraus gekommen, und, wo ich nicht irre, in dem
3. Theil der Sammlung.
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